Quidquid agis… – was immer du tust…
Predigt über Röm 14, 1-13 von Pfarrer Klaus Vogel – gehalten am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres (17.11.2024) um 09:00 Uhr in der Martinskirche in Kraichtal-Münzesheim und um 10:30 Uhr in der Kreuzkirche in Kraichtal-Unteröwisheim.
Kanzelgruß
Röm 14, 1-13
1 Den Schwachen im Glauben nehmt an und streitet nicht über Meinungen.
2 Der eine glaubt, er dürfe alles essen. Der Schwache aber isst kein Fleisch [wörtlich: nur Pflanzliches].
3 Wer isst, der verachte den nicht, der nicht isst; und wer nicht isst, der richte den nicht, der isst; denn Gott hat ihn angenommen.
4 Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest? Er steht oder fällt seinem Herrn. Er wird aber stehen bleiben; denn der Herr kann ihn aufrecht halten.
5 Der eine hält einen Tag für höher als den andern; der andere aber hält alle Tage für gleich. Ein jeder sei seiner Meinung gewiss.
6 Wer auf den Tag achtet, der tut’s im Blick auf den Herrn; wer isst, der isst im Blick auf den Herrn, denn er dankt Gott; und wer nicht isst, der isst im Blick auf den Herrn nicht und dankt Gott auch.
7 Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber.
8 Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.
9 Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.
10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.
11 Denn es steht geschrieben: »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.«
12 So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.
13 Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.
Kanzelgebet
Liebe Gemeinde,
ich glaube, ich bin nicht bekannt dafür, mit meiner humanistischen Bildung zu protzen. Ganze 6 Monate Schnellverfahren, eine lausiges Resultat bei der Abschlussprüfung zum kleinen Latinum… das ganze vor 44 Jahren… das war‘s. Ich gebe es unumwunden zu: Ich bin, was humanistische Bildung im Lateinischen und in allem anderen anbelangt, eine glatte NULL. Doch mein Schwiegervater – Gott hab ihn selig – der war keine Null, ganz im Gegenteil. Bei der Beschäftigung mit dem heutigen Predigttext ist mir ein lateinisches Zitat in den Sinn gekommen, das er, mein Schwiegervater, besonders gerne in den Raum gestellt hat. Also: Vorsicht Latein: Quidquid agis, prudenter agas et respice finem. Das heißt (ungefähr) zu Deutsch: „Was du auch tust, tu es klug (mögest du es klug tun) und bedenke das Ende!“ Es könnte eine Überschrift über den Predigttext sein: da wird zuerst kluges, besonnenes Verhalten nahegelegt und später der Blick aufs Ende. Immerhin ist vom „Richterstuhl Gottes“ die Rede.
Was du auch tust, tu es klug… ein schönes Halbsätzchen. Hat etwas von Kalenderspruch – und so beginnt der Predigttext auch… nehmt die Schwachen an, streitet nicht…Genauer: „1 Den Schwachen im Glauben nehmt an und streitet nicht über Meinungen.“ Das kommt gut, harmonisierend und konsensfähig rüber – auf jeden Fall mehrheitsfähig und allemal schön und richtig.
Irgendwie kamen meine Gedanken dabei dann fast wie von selbst auf Martin Luther und die anderen Größen der Reformation. Der Reformationstag liegt ja noch nicht lange zurück… Luthers 541. Geburtstag war heute vor einer Woche und sein 541. Tauftag einen Tag später, also am vergangenen Montag. Haben unsere protestantischen Ahnen sich klug verhalten? Luther ist ja gerade keinem Meinungsstreit aus dem Weg gegangen. Besonders nicht, wenn es um Ablass, Fegefeuer und den strafenden Gott ging. Aus heutiger Sicht könnte man zu dem Schluss kommen, Luther sei gar aggressiv und streitsüchtig gewesen, Luther habe das alles viel zu ernst genommen und zu hoch gehängt. Also von wegen: Streitet nicht über Meinungen. Nun ja…
Mit einer kleinen ökumenischen Reisegruppe war ich Ende September / Anfang Oktober in Rom. Luther war übrigens auch in Rom. Das war ein paar Jahre früher: 1511. Wenn Sie den Lutherfilm von 2003 mit Joseph Fiennes als Luther in der Hauptrolle kennen, dann erinnern Sie sich womöglich an die Treppe. Die eine ganz besondere Treppe in Rom. Scala Santa heißt sie. Ursprünglich soll sie sich in Jerusalem befunden haben und Jesus soll auf ihr, also exakt auf diesen Stufen hinauf zu Pilatus gegangen sein. Wenn ich hier die ganze Geschichte dieser Treppe und wie sie von Jerusalem nach Rom gekommen sein soll, erzählen würde, würde das die Predigt sprengen – übrigens auch, weil bei der Geschichte jedes zweite Wort „angeblich“ sein müsste. Eine maximal unwahrscheinliche Geschichte. Die Frömmigkeit zur Zeit Luthers verband sich mit dem Glauben, dass wer diese Treppe – auf den Spuren Jesu sozusagen – hinauf geht, eine zeitliche Verminderung des Aufenthalts im Fegefeuer für eine verstorbene Person erwirkt. Dabei ging es nicht darum, die Treppe mit ihren 28 Stufen einfach hinauf zu laufen. Stufe für Stufe musste auf den Knien überwunden und nach jeder Stufe ein Vaterunser gebetet werden. Martin Luther hat seinen Romaufenthalt dazu genutzt, auf dieser Treppe sich hoch zu kämpfen. Das ist in dem genannten Film sehr eindrücklich gezeigt. In einer Predigt drei Monate vor seinem Tod, im November 1545, sagte Luther folgendes – ich zitiere: „Da ich nun in Rom war, wollte ich meinen Großvater [Heiner Luder] aus dem Fegefeuer erlösen und ging die Treppe des Pilatus hinauf; auf jeder Stufe betete ich ein Vaterunser. Es war nämlich die Überzeugung, dass der, der so betet, eine Seele loskaufe. Aber als ich oben ankam, dachte ich: Wer weiß, ob das wahr ist?“ Auf unserer Romreise neulich war der Besuch der Scala Santa obligatorisch. Als wir dort ankamen, sind mir beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen. An einem ganz gewöhnlichen Dienstag- oder Mittwochnachmittag waren die 28 Stufen der Treppe geradezu übervölkert mit Menschen, die sich – z.T. mit Behinderung – die Treppe hinauf gequält haben. Mein protestantischer Blick auf das Geschehen hat mir nahezu körperliche Schmerzen bereitet. Doch andererseits: was hätten die Menschen auf der Treppe über mich gedacht, so sie meine Gedanken hätten lesen können? „Was für ein irrender, fehlgeleiteter Glaube!!!“ – das hätten sie vielleicht über mich gedacht, genauso wie ich über sie. Natürlich ist das, was Menschen noch heute auf der Scala Santa sich quälen lässt, nicht römisch-katholisch schlechthin, nicht repräsentativ. Es ist eine bestimmte Richtung oder Ausprägung. Die römisch-katholischen Mitglieder unserer kleinen Reisegruppe dachten nicht im Traum daran, auf die Treppe loszustürmen.
Schräges gibt es jedoch auch bei uns, im protestantischen Bereich. Machen wir uns da nichts vor. Die ganzen fast unüberschaubaren Abspaltungen und Neugründungen. Freie, fromme und noch frömmere, christliche und noch christlichere Gruppen. Biblizistische und evangelikale Gruppen. Elitär und selbstgerecht wirkende Gruppen, monopolistisch und exklusiv sich gebende Gruppen. Bekehrte und entschiedenste Gläubige. Eine verschwindend kleine Anzahl von Menschen im Vergleich zur Gesamtzahl der Protestanten – in einer fast unüberschaubaren Anzahl von Denominationen organisiert. Neuere Gründungen, Neuapostolische, Zeugen Jehovas, Adventisten, Mormonen… die Liste ist verwirrend lang.
Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest? Paulus zählt einiges auf, was in Rom nach seinen Informationen (er schreibt den Römerbrief ja an eine Gemeinde, die er nicht gegründet und noch gar nicht wirklich kennt) … zu Kontroversen und Konflikten geführt hat. Essverhalten und Sonntagsheiligung spricht er an. Viel oder normal essen oder fasten? Den Sabbat heiligen oder eher den Sonntag – oder alle Tage gleich behandeln? Neulich habe ich von einem Nachbarschaftsstreit erzählt bekommen, der seinen Ausgang an einem Sonntag genommen hat. Da hat jemand in seinem Vorgarten am Sonntagmorgen eine zugegebenermaßen schwerere Arbeit getan. Nach einiger Zeit geht gegenüber ein Fenster auf und die sonntägliche Ruhe in der Straße wird unterbrochen durch den lauten Schrei des vorwurfsvollen Begriffs „Sabbatschänder“. Die Person ist cool geblieben und hat auf die Gelegenheit gewartet, den Spieß umzudrehen, was sich auch nicht allzu viel später ergeben hat. Wie sagte Jesus: „Wer unter euch ohne Sünde ist…“? Gelassenheit, Demut und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber sind das, was weiterhilft und auch, worauf Paulus hier hinaus möchte. Gelassenheit, Demut und maximale Langmut finde ich in einem anderen Beispiel – zufällig auch eines, das mit der Sonntagsheiligung zu tun hat. Da haben in einer Straße in einem Kraichtaler Stadtteil ziemlich gleichzeitig die Eigentümer von zwei oder drei Häusern gewechselt… und wie das heutzutage so ist, wenn jemand ein älteres Haus kauft, dann wird kernsaniert, alles herausgerissen und erneuert. Wann macht man das, wenn man es selber macht und unter der Woche arbeiten muss? Richtig: Am Wochenende Ein Nachbar, fest im Glauben und eng mit der Kirche verbunden, hat dann über mehrere Monate – auch an Sonntagen – manchmal mehr und manchmal weniger Lärm von der Baustelle gegenüber mitbekommen. Kurz vor Ostern ist er zu den Nachbarn hinüber gegangen und hat zu Ihnen gesagt: „Dass ihr den Sonntag nicht achtet finde ich nicht gut – aber es ist eure Sache. Doch bitte, bitte tut mir einen Gefallen: Macht am Karfreitag nichts, was die Ruhe in der Straße stört.“ Sie haben sich drauf eingelassen.
4 Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest?
Gelassenheit und Demut
Wenn diese Frage und der Grundsatz, der dahinter steckt, in der Geschichte durchgehend und viel mehr beherzigt und praktiziert worden wären, dann gäbe es nicht eine derartige Unzahl an christlichen Gruppen und Gemeinschaften, an Kirchen und Gemeinden.
Außerdem – das muss an einem Tag wie heute sehr deutlich betont werden – gäbe es nicht und hätte es nicht so viele Kriege, Traumatisierte, Verletzte, Versehrte und Abermillionen Tote, Leid und unvorstellbare Not und Elend in der Geschichte der Menschheit gegeben. Gelassenheit und Demut.
Das ganze Elend, das sich durch die Menschheitsgeschichte zieht, lässt sich zu einem Großteil darauf zurückführen, dass Menschen, Gruppen, Parteien oder ganze Staaten sich absolut gesetzt haben, als Nabel der Welt, als Herrenmenschen und in jedem Fall als höherwertig gegenüber anderen gesehen haben und dass sie nicht in der Lage waren, ihre Ansprüche, ihre Macht- und Gewaltgelüste zu zügeln. Kein Gedanke, kein Blick, kein Zugang zu Ansätzen wie dem des Paulus hier im Römerbrief. Es ist jedenfalls der christliche Ansatz: 7 Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber.
8 Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Der Blick aufs Ende sollte nicht ausgeblendet werden, denn das Ende kommt – für jeden und jede. Es kommt für alle einmal.
Am Ende machen wir alle – selbst die wildesten Haudegen – einen letzten Atemzug und sind dann tot. Dann aber werden wir vor Gott treten. Ganz klein. Ganz schuldbeladen. Ganz machtlos, dürftig und bedürftig. Dann wird Gott vielleicht sagen: Dies ist das Ende. Gut, wenn du es im Leben bedacht hast. Und das Ende ist gar nicht das Ende. Es ist ein wundervoller Neuanfang, ein Anderes, ein Neues, dass dir Hören und Sehen vergehen wird. Amen.