Von sterbenden Männern und starken Frauen
Predigt über Ruth 1, 1-19a von Pfarrer Klaus Vogel am 3. Sonntag nach Epiphanias, 24. Januar 2021, gehalten in der Evangelischen Mauritiuskirche zu Kraichtal-Oberöwisheim / ONLINE
Predigt
Kanzelgruß
Rut zieht mit Noomi nach Bethlehem Ruth 1, 1-19a
1 Zu der Zeit, als die Richter richteten, entstand eine Hungersnot im Lande. Und ein Mann von Bethlehem in Juda zog aus ins Land der Moabiter, um dort als Fremdling zu wohnen, mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. 2 Der hieß Elimelech und seine Frau Noomi und seine beiden Söhne Machlon und Kiljon; die waren Efratiter aus Bethlehem in Juda. Und als sie ins Land der Moabiter gekommen waren, blieben sie dort. 3 Und Elimelech, Noomis Mann, starb, und sie blieb übrig mit ihren beiden Söhnen. 4 Die nahmen sich moabitische Frauen; die eine hieß Orpa, die andere Rut. Und als sie ungefähr zehn Jahre dort gewohnt hatten, 5 starben auch die beiden, Machlon und Kiljon. Und die Frau blieb zurück ohne ihre beiden Söhne und ohne ihren Mann. 6 Da machte sie sich auf mit ihren beiden Schwiegertöchtern und zog aus dem Land der Moabiter wieder zurück; denn sie hatte erfahren im Moabiterland, dass der HERR sich seines Volkes angenommen und ihnen Brot gegeben hatte. 7 Und sie ging aus von dem Ort, wo sie gewesen war, und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr. Und als sie unterwegs waren, um ins Land Juda zurückzukehren, 8 sprach sie zu ihren beiden Schwiegertöchtern: Geht hin und kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter! Der HERR tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an den Toten und an mir getan habt. 9 Der HERR gebe euch, dass ihr Ruhe findet, eine jede in ihres Mannes Hause! Und sie küsste sie. Da erhoben sie ihre Stimme und weinten 10 und sprachen zu ihr: Wir wollen mit dir zu deinem Volk gehen. 11 Aber Noomi sprach: Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Wie kann ich noch einmal Kinder in meinem Schoße haben, die eure Männer werden könnten? 12 Kehrt um, meine Töchter, und geht hin; denn ich bin nun zu alt, um wieder einem Mann zu gehören. Und wenn ich dächte: Ich habe noch Hoffnung!, und diese Nacht einem Mann gehörte und Söhne gebären würde, 13 wolltet ihr warten, bis sie groß würden? Wolltet ihr euch einschließen und keinem Mann gehören? Nicht doch, meine Töchter! Mein Los ist zu bitter für euch, denn des HERRN Hand hat mich getroffen. 14 Da erhoben sie ihre Stimme und weinten noch mehr. Und Orpa küsste ihre Schwiegermutter, Rut aber ließ nicht von ihr. 15 Sie aber sprach: Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehre auch du um, deiner Schwägerin nach. 16 Rut antwortete: Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. 17 Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden. 18 Als sie nun sah, dass sie festen Sinnes war, mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden. 19 So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen.
Kanzelgebet
Was für eine Geschichte, liebe Gemeinde,
eine Geschichte, die wir ganz gut kennen. Eine sehr besondere Geschichte. Eine Geschichte in der „Gott“ kaum vorkommt, jedenfalls nicht handelnd. Eine Geschichte von Hungersnot, Armut und Flucht, eine Geschichte von drei tragischen Schicksalsschlägen, eine Geschichte von Verständnis und Unnachgiebigkeit, von (Nibelungen-)Treue und Gehorsam, eine Geschichte von unglaublich merkwürdigen Namen, eine Geschichte von Wasser – Wasser, das dicker ist als Blut. Eine Geschichte von unglaublich starken Frauen und von völlig gegenteiligen Männern – von Männern, die hauptsächlich dadurch auffallen, dass sie wegsterben. Ganz am Anfang leben sie natürlich noch. Noomi wandert mit ihrer Familie wegen einer krassen Hungersnot in ihrer Heimat von der Stadt Bethlehem aus ins Land Moab. Bei ihr sind ihr Mann Elimelech, dessen Name die schöne Bedeutung „Gott ist König“ hat, sowie die Söhne Machlon und Kiljon. Beide Namen bedeuten in etwa: der Kränkliche, der Schwächliche, der Gebrechliche. Auf die Idee, seine neugeborenen Söhne so zu nennen, muss man erst einmal kommen. Es sind sprechende Namen, wie in dieser Geschichte es alle Namen sind. Sie nehmen Geschichte vorweg – Geschichte, die kommen wird. Elimelech stirbt irgendwann nach Erreichen von Moab und kurz nach der jeweiligen Eheschließung sterben auch die beiden kränklichen, schwächlichen und gebrechlichen Söhne und machen ihrem Namen alle Ehre.
„Männer haben Muskeln – Männer sind furchtbar stark – Männer können alles…“ singt Herbert Grönemeyer seit 1984. An Mann und Söhne der biblischen Noomi ist dabei aber nicht zu denken. So bleibt die Bühne ganz exklusiv den drei verbliebenen Frauen vorbehalten – und die sind genau das Gegenteil, alle drei, ganz stark. Sie müssen auch stark sein. Die einen, Orpa und Ruth, sind in ganz jungen Jahren – bereits kurz nach der Eheschließung – Witwen geworden und die dritte, Noomi, die Schwiegermutter, hat Mann und beide – sicherlich die beiden einzigen – Söhne verloren. Ihr Name, Noomi, bedeutet (Gott ist) Liebe, Lieblichkeit. Im ersten Vers nach unserem Text wird sie, als sie in Bethlehem ankommen, sagen: „Nennt mich nicht Noomi, sondern Mara; denn der Allmächtige hat mir viel Bitteres angetan.“ Sie nimmt also ihr Ergehen, ihr Leid – als von Gott gegeben an – ändert aber ihren Namen in Mara: „bitter…Bitterkeit…Bitternis“. Die vielen Verluste, die vielen Schicksalsschläge, die vielen kleinen und vor allem großen Katastrophen, die haben alles Liebliche und Süße ihres Lebens dahingerafft. Noomi will nicht länger süß nennen, was bitter ist. Für mich ist das Substrat dieser wundervollen Geschichte aus dem Buch Ruth das phantastische, das vorbildliche, Zusammenrücken, Zusammenstehen, Zusammengehen der drei Frauen. Das Schlimme ist in dieser Welt. Es war damals da und es ist heute da – und war es auch dazwischen. Es pflastert unseren Weg und unsere Wege. Mal mehr und mal weniger, mal bei mir und mal bei den anderen. Aus dieser wundervollen Erzählung leuchtet vielleicht nicht die einzige – wohl aber die beste mögliche Antwort hervor: Es ist die Solidarität, das gelebte Miteinander, Fürsorge und Solidarität. Eine landläufige Redensart lautet ja: „Blut ist dicker als Wasser“. Hier sehen wir das eindrucksvolle Gegenteil. Drei Frauen, die nicht blutsverwandt sind, stehen zusammen, stützen sich und bilden eine bärenstarke Gemeinschaft, die Untergang nicht zulässt. Denn auch die Schwiegertochter Orpa, die neben der alles überstrahlenden Ruth sehr im Hintergrund bleibt, ist Teil dieser starken Gemeinschaft. Ihr Name, Orpa, bedeutete übertragen „die den Rücken Kehrende“. Doch wenn wir das negativ auslegen, werden wir dieser Frau nicht gerecht: Sie ist beim Aufbruch zurück nach Bethlehem – wohlgemerkt in ein ihr fremdes Land – wie selbstverständlich mit dabei. Wie Ruth widerspricht sie Noomi deren erstem Versuch, beide zur Umkehr, zur Rückkehr in ihre Heimat zu bewegen und sie weint, wie Ruth auch und beide bekräftigen wie mit einer Stimme: Nein, wir bleiben an deiner Seite. Danach unternimmt Noomi noch einen, einen intensiveren Versuch, beide zur Umkehr zu bewegen. Darauf weinen Orpa und Ruth noch mehr bis Orpa schließlich gehorsam ist, sich verabschiedet und umkehrt. Diese Orpa, die stets nur schmal im Hintergrund vorkommt und die oft völlig zu Unrecht mehr oder weniger negativ dargestellt wird, die hat das nicht verdient. Negatives über sie oder an ihr gibt die Erzählung mit keiner Silbe her. Im Text wird sie nirgendwo kritisiert. Ihr Weg soll ein anderer sein und er ist ein anderer und ich glaube fest, dass es auch ein Weg Gottes, ein gesegneter Weg, ein guter Weg gewesen ist. Wer weiß, was Gott mit ihr in Moab vorhatte, wofür er sie dort brauchte. Ruths Weg ist natürlich auch ein guter Weg – ein Weg im Auftrag des Herrn – doch geht er in die andere Richtung. Ruths Weg geht mit Noomi zurück nach Bethlehem. Er verläuft an Noomis Seite, damit deren Bitterkeit eine permanente Grenze gesetzt ist. Ruths Weg speist sich von dem von ihr selbst formulierten und unglaublich bekannten Motto: Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. 17 Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.
So, liebe Gemeinde, kann – so soll unser Zusammenleben als Christen stattfinden. So schaffen und bewältigen wir gemeinsam dieses Leben – als Christen, als Gemeinde, als Gemeinschaft, als Geschwister im Glauben. AMEN