Die Botschaft der Türme
Festpredigt von Oberkirchenrat Dr. Matthias Kreplin im Gottesdienst zum Auftakt des Festtages zum 600jährigen Jubiläum des Baus des Kirchturms an der Evangelischen Mauritiuskirche in Oberöwisheim am 18. September 2022
Liebe Festgemeinde in Owwareuse,
für alle, die hier im Ort wohnen, gehören die beiden Kirchtürme der evangelischen und katholischen Kirche zum selbstverständlichen Ortsbild. Man nimmt sie im täglichen Leben wahr, und zugleich nimmt man sie doch nicht wirklich wahr. Sie gehören so selbstverständlich zum Ortsbild dazu, dass man sich gar keine Gedanken mehr über sie macht. Heute an diesem Tag, wo wir den 600. Jahrestag der Erbauung des Kirchturms an der Evangelischen Kirchen feiern, will ich mit Ihnen über die Botschaft dieser Kirchtürme nachdenken.
Als erstes fällt bei beiden Kirchtürmen ihre Höhe auf. Sie überragen die anderen Bauwerke im Dorf. Und sie laufen nach oben spitz zu. Sie sind wie ein Finger, wie ein Pfeil, der zum Himmel weist. Diese Ausrichtung nach oben lässt sich von verschiedenen Blickwinkeln wahrnehmen. Wenn man unmittelbar vor einer der beiden Kirchtürme steht, dann muss man den Kopf weit in den Nacken legen, um hinaufzublicken. Und selbst, wenn man von den Hügeln ringsum auf das Dorf blickt, dann kann man diese Pfeilrichtung nach oben noch wahrnehmen. Kirchtürme weisen uns an den Himmel.
Der Himmel, der sich über das Land wölbt, ist schon immer ein Symbol für Gott: der Himmlische, das Himmelreich – so sprechen wir manchmal, wenn wir von Gott reden. Wir wissen: Gott wohnt nicht einfach über den Wolken, da sitzt kein alter Mann mit weißem Bart auf eine Wolke, umschwirrt von Engeln. Aber der Himmel mit seiner Weite, mit seiner nicht zu greifenden Unendlichkeit ist Symbol für Gottes Weite und Unendlichkeit. Nicht zufällig träumt Jakob – wie wir eben in der Lesung gehört haben – von einer Leiter, die in den Himmel führt und an der Engel auf und absteigen. Der Himmel als Symbol für Gott und die Leiter als Symbol dafür, dass eine Verbindung zwischen Gott und Mensch herrscht. Unsere Kirchtürme sind keine Leiter in den Himmel, aber sie sind Hinweispfeile, die uns sagen: Richte dich aus auf Gott, richte dich aus auf den Ewigen, dem du dein Leben verdankst, der die mit Güte und Treue begegnet, der dein Leben segnet und der dich behütet wie der Himmel an einem sonnigen Tag das Land überwölbt. Kirchtürme sagen uns: Das Leben hat nicht nur eine horizontale Dimension, die Menschen, mit denen wir zu tun haben, unsere Arbeit, die Geschäftigkeit der Tage, die Ziele, die wir erreichen wollen, auch unsere Ängste und Befürchtungen – es gibt auch eine vertikale Dimension. Das illustriert auch das Kreuz oben auf dem Turm, in der ja auch Horizontale und Vertikale zusammenkommen. Unser Leben empfängt seine Ganzheit, seinen Grund, seinen Sinn und sein Ziel erst wirklich und ganz von dieser Ausrichtung auf Gott hin. Deshalb sind Kirchtürme, die uns auf den Himmel verweisen, immer eine steinerne Botschaft, die uns gerade auch im Alltag sagen: Vergiss in deinem Leben nicht diese Ausrichtung auf Gott hin. Erst mit ihr wird das Leben ganz und rund und erst in ihr findest du Halt und Grund für dein Leben.
Und so können wir uns ja, liebe Schwestern und Brüder, immer wenn wir durchs Dorf gehen und unser Blick auf einen der Kirchtürme fällt, oder wenn wir von den Hügeln ums Dorf herum auf die beiden Kirchtürme blicken, uns daran einen Augenblick erinnern lassen: Dass über unserem Leben und über dieser ganzen Welt Gottes Güte ausgespannt ist wie der Himmel über der Erde. Und vielleicht ist diese Erinnerung auch Anlass, immer mal wieder innezuhalten und ein kurzes Gebet zu sprechen. Gott zu danken für das Gute, das wir erfahren haben. Und ihn um seinen Segen zu bitten, für diese Welt, für die Menschen, die uns lieb sind, für uns selbst. So laden uns die Kirchtürme ein zu einem kleinen Gottesdienst im Alltag. Sie sind stumme, zu Stein gewordene Botschaft.
Manchmal aber nicht nur stumm. Wenn morgens, mittags oder abends die Glocken läuten, dann ist das nicht nur eine Zeitansage, dann ist das nicht nur eine alte Tradition, die die Menschen am Morgen zur Arbeit und am Abend von der Arbeit auf den Feldern oder im Wald nach Hause gerufen hat. Wenn die Glocken läuten, dann ist das eine Aufforderung, einen Augenblick innezuhalten und uns daran zu erinnern, dass unser Leben von Gott her kommt und wir letztlich von seiner Güte leben. Und so ist das Glockengeläut eine Einladung, den Alltag kurz zu unterbrechen und ein Gebet zu sprechen und uns so auf Gott hin auszurichten. Im Glockengeläut wird die stumme, zu Stein gewordene Botschaft der Kirchtürme nun auch zu einer hörbaren Botschaft.
Als vor 600 Jahren der Kirchturm der evangelischen Kirche gebaut wurde, waren die Zeiten unruhig und es drohten immer wieder Überfälle rivalisierender Adliger und ihrer Soldaten. Und so baute man einen Kirchturm nicht nur als Turm für ein Gotteshaus um Menschen in ihrer Ausrichtung auf Gott zu bestärken, also zur Ehre Gottes, sondern zugleich als Wachturm, um herannahende Gefahr frühzeitig zu entdecken, und wohl auch – zusammen mit dem damals ummauerten Kirchhof – als Zufluchtsort. Die dicken Mauern der quadratischen Untergeschosse zeugen noch heute davon. Schon hier wird deutlich: Ein Kirchturm dient einerseits Gott zur Ehre, aber er dient auch dem Wohl der Menschen. Gott zur Ehre und den Menschen zum Wohl. Auf Gott ausgerichtet sein und den Menschen dienen – das ist nicht nur die Aufgabe eines Kirchturms. Das ist die Bestimmung der Kirche schlechthin und auch die Berufung von uns allen: Auf Gott ausgerichtet sein und unseren Mitmenschen dienen, das macht unser Leben ganz und sinnvoll.
Der Kirchturm weist also nicht nur nach oben, er verweist uns auch auf unsere Mitmenschen und auf das Miteinander. Und er kann davon erzählen, wo dieses Miteinander gelungen ist, und wo Menschen am Miteinander schuldig geworden sind. Von großem Leid und großer Schuld kann dieser Kirchturm erzählen: Von der Zeit des 30-jährigen Krieges, wo Gewalt und Zerstörung über diesen Ort – wie viele anderen Orte auch – kamen und nach diesem Krieg nur noch acht Menschen im Dorf wohnten. Von 1707, als französische Truppen den Ort niederbrannten und auch der Dachstuhl des Kirchturms Feuer fing, so dass sogar das Metall der Glocken schmolz. Hier trägt der Turm eine Erinnerung in sich an Gewalt, Tod und Leid. Und doch trägt dieser Turm auch Geschichten von Liebe und Hingabe für die Gemeinschaft in sich. Er würde heute nicht so im Dorf stehen, wenn es nicht über die Jahrhunderte immer wieder Menschen gegeben hätte, die an diesem Turm gebaut, die ihn renoviert und erneuert hätten – fast in jeder Generation. Wenn es nicht Menschen gegeben hätte, die für die Sanierung des Turms oder für die Anschaffung der Glocken gespendet hätten. Oder wenn es nicht, wie 1813 einen mutigen jungen Mann gegeben hätte, der nach einem Blitzeinschlag und dem Drohen eines Brandes im Dachstuhl des Turmes hinaufgestiegen wäre und unter Lebensgefahr glimmende Balken und Bretter entfernt hätte. Der Turm erinnert uns also als Zeuge der Geschichte an menschliche Gewalttat und menschliche Schuld. Aber er erinnert uns auch daran, dass wir alle davon leben, dass Menschen sich für die Gemeinschaft einsetzen. Der Turm ermutigt uns dazu, nicht nur an uns selbst und unseren eigenen Nutzen zu denken, sondern beizutragen zum Miteinander, zum Gemeinwohl. Wenn Sie also auf diesen Turm blicken, dann erinnern Sie sich auch daran, dass dieser Turm uns aufruft, nicht nur uns selbst im Blick zu haben, sondern auch die Menschen, die uns brauchen; das Miteinander in der Familie oder Nachbarschaft, das Miteinander im Dorf, in unserem Land, in Europa und der ganzen Welt. Nicht allein und für uns selbst, sondern gemeinsam und im Dienst an den Menschen, die uns brauchen, bekommt unser Leben seinen Sinn. Das sagt uns dieser 600-Jahre alte Turm.
Und nun haben Sie hier in Owwareuse noch eine Besonderheit, die nicht alle Dörfer im Kraichgau mit Ihnen teilen: Sie haben schon viele Jahrhunderte lang zwei Kirchengemeinden und darum auch zwei Kirchen und zwei Kirchtürme. Nachdem 1622 vom Ortsherrn Hans vom Helmstatt die Reformation im Ort eingeführt wurde, gab es – weil ein Teil der Bevölkerung weiterhin dem Domkapitel in Speyer unterstand – zwei Pfarrer und zwei Konfessionen im Ort. Beide Konfessionen mussten sich zunächst das eine Gotteshaus teilen. Und das gelang nicht in Frieden. Die Streitigkeiten eskalierten sogar so weit, dass es 1653 zu einer handfesten Prügelei kam, in der der evangelische Pfarrer den katholischen Pfarrer mit einer Flinte erschoss. „Um Gottes Willen, was für eine Katastrophe“ – so möchte man heute noch, mehr als 350 Jahre später ausrufen. Mehr dazu ist sicher im Theaterstück am kommenden Samstag zu erfahren.
Frühere Generation wussten offenbar keine andere Lösung für diesen Streit, als dass eine eigene katholische Kirche gebaut wurde und die Konfessionen damit getrennte Wege gingen. Und so gab es auch ein katholisches Gasthaus und ein evangelisches Gasthaus. Befriedung durch Trennung. durch Auseinandergehen, durch Distanz-Schaffen. So ähnlich, wie in der Geschichte von Jakob, die wir vorhin in der Lesung gehört haben. Jakob ist nämlich auf der Flucht vor seinem Bruder Esau, den er betrogen hat. Er kann es nicht mehr in seiner Nähe aushalten – er muss sich trennen von seinem Bruder und in die Fremde ziehen. Und doch zeigt ihm der Traum von der Himmelsleiter, dass er an diesen Ort wieder zurückkommen soll. Dass also seine große Lebensaufgabe die Versöhnung mit seinem Bruder ist. Lesen Sie im ersten Buch Mose nach: Es ist spannend, wie diese Versöhnung dann am Ende gelingt.
Heute nun verbindet die beiden Kirchtürme eine Slackline und Friedi Kühne wird von einem Kirchturm zum andern gehen – ich hoffe, das Wetter wird es zulassen. Wo man einst meinte, getrennte Wege gehen zu müssen, wird heute eine Verbindungsleine geschaffen. Wo man einst sich unversöhnlich voneinander abwandte, sind schon seit Jahrzehnten Gemeinsamkeit und Miteinander gewachsen. Und wer weiß: Vielleicht wird es im kommenden Winter, wenn das Heizen zweier Kirchen einfach zu teuer wird, auch dazu kommen, dass man nur noch eine Kirche heizt und beide Gemeinden ihren Gottesdienst in einer Kirche feiern und so – wenn auch nur für Wochen – wieder eine Simultankirche entsteht. So ein Vorschlag, den wir von Kirchenleitungsseite den Gemeinden machen Aber auf jeden Fall gilt: Die zwei Kirchtürme sind heute nicht mehr ein Zeichen der Feindschaft, der Abwendung voneinander, der Trennung, sondern der versöhnten Verschiedenheit, der Gemeinschaft mit wechselseitigem Respekt, der Verbundenheit auch über Unterschiede hinweg. In unserer Gesellschaft, in der Unterschiede immer stärker hervortreten, in der Menschen verschiedener Herkunft und Hautfarbe, verschiedener Religion und Lebensstile zu einem Miteinander finden müssen, brauchen wir solche Zeichen der versöhnten Verschiedenheit. Die beiden Kirchtürme zeigen uns: Nicht alle müssen gleich sein, nicht alle müssen dasselbe glauben und dieselben Auffassungen haben – aber wir können über alle Unterschiede hinweg miteinander verbunden sein und einander mit Respekt und Achtung begegnen. Ein Miteinander ist möglich, wenn wir trotz Unterschieden aufeinander zugehen.
Das Konzept der versöhnten Vielfalt, in der Menschen in großer Unterschiedlichkeit und dennoch mit Respekt voreinander in Frieden zusammenleben – das ist es, was das das nationalistische Russland in der Ukraine bekämpft. In diesem Krieg geht es nicht nur um Macht und Einfluss, sondern auch um ein Zurückdrängen von Pluralismus, Individualität und Verschiedenheit. Die beiden Kirchtürme hier im Ort zeigen uns, dass wir in Westeuropa gut leben mit Unterschiedlichkeit und Vielfalt. Und dass selbst über tiefe Gräben hinweg Versöhnung möglich ist.
Liebe Festgemeinde, wenn Sie also in den kommenden Wochen und Monaten auf ihre Kirchtürme blicken – weil ihr Blick darauf fällt, wenn Sie durchs Dorf gehen oder von den Wiesen rund herum auf das Dorf schauen – dann mögen Sie diese beiden Kirchtürme an drei Dinge erinnern:
Erstens: Daran, dass es uns gut tut, uns immer wieder auf den Himmel hin, auf Gott hin auszurichten. Lassen Sie sich von den Kirchtürmen den Weg zum Himmel weisen.
Zweitens mögen die Kirchtürme Sie an Ihre Mitmenschen weisen und Sie erinnern: Wir sind nicht für uns selbst geschaffen, sondern dafür, füreinander da zu sein. Wir sollen die Liebe und Güte durch die Zeiten tragen. Lassen Sie sich von den Kirchtürmen den Weg weisen zu den Menschen, die Sie brauchen.
Und drittens: Die Kirchtürme zeigen in ihrer Doppelung und Verschiedenheit, dass Versöhnung und ein Miteinander auch über Unterschiede hinweg möglich ist. Lassen Sie sich also durch diese Kirchtürme dazu ermutigen, auch auf Menschen zuzugehen, die Ihnen fremd sind oder Ihnen vielleicht sogar Mühe bereiten.
Mögen die beiden Kirchtürme so noch viele Generationen ihre zu Stein gewordene Botschaft ausrichten, Gott zur Ehre und zum Wohl der Menschen. Amen.