Es ist nicht das, wonach es aussieht!
Predigt von Pfarrer Klaus Vogel am 13. September 2020, 14. Sonntag nach Trinitatis, gehalten in der Evangelischen Mauritiuskirche zu Kraichtal-Oberöwisheim
Wider die Schubladendenker und Menschenabstempler
Ganz am Anfang „Heute hier morgen dort“ (von Hannes Wader) abspielen (ca. 50 Sekunden)
Liebe Gemeinde,
mit ein paar Takten Hannes Wader habe ich heute begonnen: Heute hier, morgen dort, bin kaum da, muss ich fort… Und dann: So vergeht Jahr um Jahr und es ist mir längst klar, dass nichts bleibt, dass nichts bleibt, wie es war…
Eine Frage, die sich stellt ist, ob uns wirklich klar ist, ob es uns wirklich immer klar ist, dass nichts bleibt, wie es ist und wie es war? Natürlich ist das so auf dem Friedhof, am Urlaubs- und Ferienende, oder am Ende der Erwerbstätigkeit, bei einem Umzug, wenn das letzte oder einzige Kind die Kita verlässt, die Schule beendet, konfirmiert wird, wegzieht, eine Familie gründet. An den Wendepunkten, bei den ganz besonderen und zum Teil im Leben einmaligen Ereignissen ist uns das schon bewusst. Aber ansonsten? An den unzähligen Tagen, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen, da bleibt davon nicht viel übrig. Da tun wir – meist unbewusst – so, als wäre alles in Stein gemeißelt, als wäre alles schon immer so gewesen und würde immer so bleiben. Da lieben und brauchen wir unsere Schubladen, in die wir alles und alle um uns herum munter einsortieren: War schon immer so – oder war noch nie so – je nach dem. In unserem heutigen Text hören wir von einer Begebenheit in Jericho, einer Begegnung bzw. Begegnungen von Menschen mit Jesus – und bei allen bis auf einem stellt Jesus ihr Schubladendenken auf den Kopf und er stößt auch vor den Kopf – alle bis auf einen – und für genau diesen wird das ein Tag, an dem sein Leben völlig anders wird. Ein Tag, an den er sich mit Datum sicher noch nach 30 oder 50 Jahren erinnern kann und wird. Wer weiß, welche besonders bekannte Begebenheit heute Predigttext ist? (Fragen – bei richtiger Antwort eine Tafel Schokolade direkt aushändigen)
Richtig, der eine, der Glückspilz, der ab diesem Tag absolut nicht mehr in die bisherige Schublade passt, in die ihn alle hineingesteckt haben, heißt Zachäus. Die Erzählung steht in Lukas 19:
1 Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch. 2 Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. 3 Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. 4 Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. 5 Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. 6 Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. 7 Da sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. 8 Zachäus aber trat herzu und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. 9 Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams. 10 Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.
Kanzelgebet
Diese Begebenheit ist sehr schillernd und spannend. Stellen wir uns folgendes vor: Ein Mensch weiß nichts vom Neuen Testament und fängt an, das Lukasevangelium zu lesen. Dann verfestigt sich bei ihm mit fast jedem Kapitel, das er liest, die Erkenntnis, dass Jesus ein Freund der Zöllner war und ein Feind der Reichen. Einige Verse vorher, in Kapitel 18 sagt er einem reichen jungen Mann: „Verkaufe alles, was du hast und gib es den Armen“; in Kapitel 6 sagt er gar: „Weh euch ihr Reichen…!“ – Eure Zukunft – insbesondere die bei Gott – ist besch…eiden, ein einziger Abgrund; Russische Gulags muten im Vergleich dazu schon fast wie Ferienparadiese an. Und nun also hier am Anfang dieses: Da war ein (Ober-)Zöllner und ein Reicher. Der ahnungslose Erstleser ist an der Stelle völlig überfordert und kann unmöglich wissen, wie die Sache weiter- und ausgeht. Ist der reiche Oberzöllner nun Freund oder Feind, ein Guter oder ein Schlechter? Dramaturgisch sehr schlau wird diese Frage nun aber nicht gleich beantwortet, sondern es rückt zunächst unser Oberzöllner in den Fokus und wird zum Subjekt des Geschehens. Er will Jesus sehen. Ihm war schon klar, dass dieser Jesus kein potentieller Zollzahler ist auch, dass er keine Tipps auf Lager hat, wie man die Leute noch effizienter betrügen und ‚rasieren’ kann. Im Text wird sein Motiv so beschrieben: Zachäus will wissen, „wer (Jesus) wäre“. Es ist anzunehmen, dass er schon von Jesus gehört hat und dass der kein Freund der Reichen – wohl aber der Zöllner sei. Das macht ihn vorsichtig. An der Stelle, wo Jesus gerade läuft, ist schon ein riesiges Gedränge und Zachäus ist kleinwüchsig. So läuft er weiter, wo Jesus kurz darauf vorbeikommen würde. Seine Vorsicht verhindert, dass er vorne an der Straße sich platziert, was er sonst bestimmt gewohnt war. Als Oberzöllner ist man vorne und nicht hinten. Jetzt aber sucht er etwas mehr Distanz. Hinten geht aber nicht wegen der fehlenden Dezimeter. Also geht er nach oben auf den Baum der da steht. Höhe ist in diesem Fall ideal, sie verbindet Distanz mit Überblick. Die Frage ist, warum macht Zachäus das überhaupt? Was ist sein Motiv? Warum ist er nicht zu Hause geblieben und hat sein Geld gezählt oder die nächsten Einnahmen oder Investitionen geplant oder dem Luxus, den er sich leisten konnte gefrönt? Wir sehen: Zachäus passt nicht in die Schublade, in die ihn seine Zeitgenossen gesteckt haben. Die haben sich bestimmt in der Situation von Anfang an gefragt – jedenfalls, wenn sie ihn überhaupt wahrgenommen haben – was dieser Kerl da verloren hat. Aber dieser Kerl ist sensibler als alle denken, der ist neugierig und nachdenklich, der ist zumindest bereit, sich und sein Leben, sein Denken und Tun auf den Prüfstand zu stellen, sich in Frage stellen zu lassen… von Jesus, dem Experten in Sachen Gott und in Sachen Ethik, also richtiges, gutes Verhalten. Was ich hier herauslese ist die große Empfehlung an uns, uns diese Neugier zu bewahren oder – je nach dem – sie uns anzueignen. Neugier auf Gott. Neugier auf Ideen für richtiges, gutes, Gott wohlgefälliges Verhalten. Das können – nein das sollten wir von der Zachäus Geschichte lernen und behalten. Neugierig sein und bleiben und schwere Allergien entwickeln gegen Schubladen, in die wir gesteckt werden und natürlich auch gerne andere stecken. Jesus schließlich holt Zachäus direkt bei seinen Fragen, seiner Offenheit, seiner grundsätzlichen Bereitschaft, alte, bisherige Pfade zu verlassen, ab. Wie einen reifen Apfel pflückt er sich den auf dem Baum sitzenden Zachäus, weil er und die Zeit reif dafür waren. Die ganze Menge aber, die dabei war, verharrt im üblen und üblichen Schubladendenken. Sie murrten oder empörten sich – je nach Übersetzung. Sie bleiben elende und bedauernswerte Schubladendenker und Menschenabstempler.
Was wir mit dem Text nicht tun sollten ist, ihn nach Prozenten und Proporz ausschlachten im Sinn von: Wer reich ist muss 50% seines Besitzes an Arme abgeben und wer andere betrogen hat, muss 400% des Betrugsvolumens zurückgeben. Das gibt der Text aus verschiedenen Gründen nicht her. Zachäus ist ein betrügerischer Reicher. Gilt der Text nur denen? Was ist mit den ehrlichen Reichen? Mit denen, die durch Erbe, Schuften oder geniale Ideen zu Reichtum gekommen sind? Ich meine, dass diese Fragen keine entscheidende Rolle spielen. Die Zachäus Begebenheit sagt uns, sagt allen ganz deutlich: Schau darauf, was du hast, schau auf deinen Besitz, deinen Überfluss und dann bedenke, was davon du einmal mitnehmen kannst – und dann schau auf die Armut, die Ungleichheit, das Elend um dich herum und auf der Welt – und dann denke nach und dann handle…
Zachäus hat sich, wie erzählt wird, darauf eingelassen, auf Jesus eingelassen; er ist aus der Schublade gesprungen und hat eine atemberaubende Kehrtwende gemacht; er hat alles gewonnen. „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren…“ resümiert Jesus. Dem möchte ich nichts mehr hinzuzufügen. Amen