Ziege, Schaf oder Wolf?
Predigt über Hesekiel 34, 1-2.10-16.31 von Pfarrer Klaus Vogel am Sonntag Misericordias Domini, 18. April 2021, gehalten in der Evangelischen Mauritiuskirche zu Kraichtal-Oberöwisheim im Präsenzgottesdienst und ONLINE
Predigt
Kanzelgruß
Hesekiel 34 – Israels schlechte Hirten
1 Wieder empfing ich eine Botschaft vom HERRN. Er forderte mich auf: 2 »Du Mensch, richte den führenden Männern von Israel diese Worte aus! So spricht Gott, der HERR: Wehe euch, ihr Führer Israels! Ihr solltet für mein Volk wie Hirten sein, die ihre Herde auf eine gute Weide führen. Aber ihr sorgt nur für euch selbst.
10 Ihr bekommt es mit mir zu tun! Ich ziehe euch zur Rechenschaft für alles, was ihr meinen Schafen angetan habt. Ihr sollt nicht länger ihre Hirten sein. Ich lasse nicht mehr zu, dass ihr nur für euch selbst sorgt; ich rette die Schafe aus euren Klauen, damit ihr sie nicht mehr auffressen könnt!«
Gott, der gute Hirte
11 Denn so spricht Gott, der HERR: »Von nun an will ich mich selbst um meine Schafe kümmern und für sie sorgen. 12 Wie ein Hirte seine Herde zusammenbringt, die sich in alle Richtungen zerstreut hat, so werde auch ich meine Schafe wieder sammeln. Ich rette sie aus all den Orten, wohin sie an jenem dunklen, schrecklichen Tag vertrieben wurden. 13 Aus fremden Völkern und Ländern führe ich sie heraus und bringe sie wieder in ihr Land. Dort lasse ich sie weiden, in den Bergen, an den Flüssen und in den Tälern. 14 Ja, ich gebe ihnen gute und saftige Weideplätze auf Israels hohen Bergen, wo sie sich lagern und satt fressen können. 15 Ich selbst werde ihr Hirte sein und dafür sorgen, dass sie in Ruhe und Sicherheit leben können. Das verspreche ich, Gott, der HERR. 16 Ich suche die verloren gegangenen Schafe und bringe alle zurück, die sich von der Herde entfernt haben. Wenn sich eines der Tiere ein Bein gebrochen hat, will ich es verbinden, und den kranken helfe ich wieder auf. Die fetten und starken Tiere aber lasse ich nicht aus den Augen! Denn ich bin ein Hirte, der gut und gerecht mit seinen Schafen umgeht.
31 Ja, ihr seid meine Herde, und ich bin der HERR, euer Gott; ich führe euch auf gute Weide. Darauf könnt ihr euch verlassen!«
Kanzelgebet
Liebe Gemeinde,
man könnte es eine Steilvorlage nennen. Bei diesem Text und nach dieser Woche ist es kaum möglich, nicht spontan an die unwürdige, egomane und durchaus auch unchristliche Kanzlerkandidatensuche ausgerechnet bei den beiden Parteien zu denken, die das „C“, C wie christlich, in ihrem Namen gleich vorneweg tragen – ausgerechnet. Aber natürlich geht es nicht um die Parteien, sondern um die beiden Protagonisten, die unnachgiebig auf Gegenkurs sind, ja auf Kollisionskurs. Angeblich geht es ihnen um das große Ganze, die Partei, die Wahl, den Sieg… was für ein riesen Schmarrn, um es im Dialekt des einen zu sagen. Das glaubt ja nur, wer noch an den Osterhasen glaubt. Es ist das perfekte Tutorial, die perfekte Anschauung zu der Fabel von den beiden Ziegen. Wenn Sie die Fabel kennen, dann ist alles klar, wenn nicht, dann lesen Sie sie einfach mal. Sie können dabei den Ziegen von Anfang an Namen geben. Nennen Sie die eine zum Beispiel Armin und die andere Markus – es sind in diesem Fall zwei Ziegenböcke…
„Ihr solltet für mein Volk wie Hirten sein, die ihre Herde auf eine gute Weide führen. Aber ihr sorgt nur für euch selbst.“
Der Text des Propheten Hesekiel ist über 2.500 Jahre alt… …und könnte heute Morgen geschrieben worden sein. Und natürlich lässt sich ohne Umschweife auch an die Maskenaffäre denken, wo Abgeordnete des Deutschen Bundestags ihr Amt, ihren Einfluss und ihre Vernetzung in Verbindung mit der Corona Pandemie missbraucht haben, um abzukassieren, um Kasse zu machen, anstatt ihre gut bezahlte Arbeitszeit dafür zu nutzen, dem Wohl des Volkes zu dienen. Sie haben aber lieber ans eigene Wohl, ans eigene Konto gedacht. Schande über sie. Es ist schlimm, wie viele Beispiele da einfallen. Der Kraichtaler Bürgermeisterwahlkampf war bei einzelnen ja nun auch nicht gerade geprägt von ausuferndem Respekt für den Kandidaten des politischen Gegners.
Die „führenden Männer“ spricht Hesekiel an und Männer dominieren die zahllosen Beispiele, die uns so schnell einfallen. Haben wir es hier mit einem speziellen Männerproblem zu tun? Ich glaube nicht. Der Prophet spricht zu Israel mitten in der babylonischen Gefangenschaft. Mitten im Dilemma des Verlusts von Heimat und Hoffnung. Er klagt die politische und religiöse Elite schwer an. Sie haben versagt, ihr eigenes Ding gemacht, sie wurden ihrer Verantwortung nicht gerecht und sind darum abgesetzt und abgestürzt. Hesekiel hält ihnen im Auftrag Gottes vor: „Ihr solltet für mein Volk wie Hirten sein, die ihre Herde auf eine gute Weide führen.“ Natürlich gilt das immer noch für alle, die zumindest ein kirchliches Amt haben: Kantoren, Pfarrerinnen, Erzieher, Diakoninnen. Ich möchte aber diesen Auftrag völlig entgrenzt und entschränkt verstehen, völlig losgelöst von Ämtern und Hierarchien. „Homo homini lupus!“ sagt der englische Philosoph Thomas Hobbes und zitiert dabei einen Satz aus einer alten lateinischen Komödie. „Homo homine lupus“ – „der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“. Das Wort des Propheten Hesekiel sagt dazu jedoch das genaue Gegenteil: Der Mensch sei dem Menschen ein… …Hirte, ein Helfer, ein Beschützer und Begleiter, eine ehrliche Haut, ein ehrlicher Makler. Wir leben alle in sozialen Gruppen. In der Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, unter Bekannten, am Arbeitsplatz, im Verein, in der Kirchengemeinde, im Chor, im Arbeitskreis und wo auch immer. Wir leben nicht jede und jeder für sich allein, abgeschottet und kontaktlos auf der einsamen Insel – wie Robinson, und selbst der hatte seinen Freitag. Wir sollen uns nicht Wölfe sein, sondern Hirten, Fürsorger, liebevolle Begleiter und friedliche Weggenossen. Unser Verhältnis zu anderen, zueinander darf sich daran orientieren, wie Gott ist, wie Gott sich zu uns verhält. Und das finden wir [wahrscheinlich ziemlich unerwartet] im 34. Kapitel des Propheten Hesekiel. Es sind unglaublich schöne und inhaltlich starke Worte, die sich nicht einmal vor Psalm 23 verstecken müssen. Sie beschreiben, was Gott zur Chefsache gemacht hat:
»Von nun an will ich mich selbst um meine Schafe kümmern und für sie sorgen. Ich selbst werde ihr Hirte sein und dafür sorgen, dass sie in Ruhe und Sicherheit leben können. Das verspreche ich, Gott, der HERR. 31 Ja, ihr seid meine Herde, und ich bin der HERR, euer Gott; ich führe euch auf gute Weide. Darauf könnt ihr euch verlassen!« Es ist das Kümmern um uns, seine Menschen. Gott führt und bringt uns durchs Leben. Gott geht keine Experimente ein. Unser Wohlergehen, unsere Sicherheit, unsere Zukunft, unser Glück, unsere Erlösung und unser Heil sind sein vorrangiges Interesse und seine Hauptsorge – Chefsache eben. Chefsache und Ausfluss seiner grenzenlosen Barmherzigkeit, der Misericordias Domini, an die der heutige Sonntag – und nicht nur er – erinnert. Amen.