Von Erbsenzähler(inne)n… und Lichtträger(inne)n
Predigt von Pfarrer Klaus Vogel am 2. August 2020, 8. Sonntag nach Trinitatis, gehalten in der Evangelischen St. Martin Kirche zu Kraichtal-Münzesheim sowie in der Evangelischen Mauritiuskirche zu Kraichtal-Oberöwisheim
Joh 9, 1-7: Jesus heilt einen Blinden (aus der „Hoffnung für alle“)
1 Unterwegs sah Jesus einen Mann, der von Geburt an blind war. 2 »Rabbi«, fragten die Jünger, »wer ist schuld daran, dass dieser Mann blind ist? Hat er selbst Schuld auf sich geladen oder seine Eltern?« 3 »Weder noch«, antwortete Jesus. »Vielmehr soll an ihm die Macht Gottes sichtbar werden. 4 Solange es Tag ist, müssen wir die Taten Gottes vollbringen, der mich gesandt hat. Bald kommt die Nacht, in der niemand mehr etwas tun kann. 5 Doch solange ich in der Welt bin, werde ich für die Menschen das Licht sein.« 6 Dann spuckte er auf die Erde, rührte mit dem Speichel einen Brei an und strich ihn auf die Augen des Blinden. 7 Dann forderte er ihn auf: »Geh jetzt zum Teich Siloah und wasch dich dort.« Der Blinde ging hin, wusch sich, und als er zurückkam, konnte er sehen.
Liebe Gemeinde, es war einmal ein stark schielendes Huhn. Und weil es schielte, sah es die ganze Welt etwas schief. Deshalb glaubte es auch, die Welt sei tatsächlich insgesamt schief. Alles erschien ihm schief, sogar der Hahn und die anderen Hühner. Das schielende Huhn lief stets etwas schräg und so plumpste es häufig gegen Wände und Bäume.
An einem windigen Tag spazierten die Hühner am schiefen Turm von Pisa vorbei. (Folie 8)
„Schaut her“, gackerten die Hühner, „der Wind hat den Turm schiefgeblasen.“
Das schielende Huhn war verwundert, denn es konnte nichts Schiefes am Turm erkennen – im Gegenteil, er schien kerzengerade zu stehen. (Folie 9) Es sagte aber nichts und dachte sich nur, dass die anderen Hühner wohl alle einen Knick in der Optik haben müssen.
Das eine Huhn und die restlichen Hühner sehen dasselbe und nehmen es ganz unterschiedlich wahr.
Vor Gericht oder bei Verhören ist das schon millionenfach geschehen: Ein Mann mit Brille in einem roten SUV – Nein, es war ein Mann ohne Brille in einem braunen Van – oder: es waren drei maskierte Einbrecher mit Pistolen – nein es waren vier, alle mit künstlichen Bärten und schwarzer Sonnenbrille von denen zwei ein Gewehr hatten. Von selektiver Wahrnehmung spricht hier die Psychologie: Der eine sieht Bäume, Probleme dicht an dicht – der andere die Zwischenräume und das Licht. Wir sehen nur, was wir sehen wollen. Die Sinne senden zwar ihre Eindrücke ins Hirn, aber unser Gehirn verarbeitet sie und macht eine Erkenntnis draus – mit Vorliebe nach altbewährtem Muster in der Kategorie „Bekanntes“.
Schon Rene Descartes fiel auf: „Was Peter über Paul sagt, sagt mehr über Peter als über Paul.“
Schauen wir uns an, was die Jünger hier sagen. Es ist übrigens die gleiche Konstellation wie in der Geschichte mit dem schielenden Huhn: da der eine und gegenüber alle anderen. Sie kommen an einem blinden Menschen vorbei; Jesus sieht ihn, wie es scheint, zuerst, unternimmt aber zunächst nichts. Die Jünger aber werden sofort zu ungemein aktiven Hauptdarstellern der Szene und sie zeigen sich dabei als ahnungslos und inkompetent, dass es schon weh tut. Da sind sie mit Jesus unterwegs und spielen sich als die Oberkriminalisten auf. Man könnte meinen, Jesus wäre der Obersheriff von Palästina gewesen, der überall nur nach Schuldigen Übeltätern sucht. Die Jünger interessiert allein: Wer ist schuld, wer hat’s verbockt, wer ist verantwortlich, wer hat grade zu stehen für die Blindheit dieses Mannes? Es ist so traurig: Der Blinde in seiner Not interessiert sie keine Bohne. Ist er selbst schuld, seine Eltern oder ganz jemand anderes? Das Ganze ist wie wenn ich als erster an einen Unfallort mit mehreren Schwerverletzten komme und mache statt sofortiger Erstversorgung mir erst mal gründlich Gedanken, wie es zu dem Unfall gekommen sein könnte, mache Fotos, messe ab, untersuche Bremsspuren.
Sollten die Jünger wirklich noch nicht gemerkt haben, wie Jesus tickt, wie Jesus unterwegs ist? Für Jesus ist der Blinde in seiner Not das Thema und nicht irgendwelche Schuldfragen. Jesus sieht diesen Blinden wie er alle Menschen sieht, denen er begegnet: aufmerksam, achthabend, wahrnehmend, sorgend. Dieser blinde Mensch soll nicht analysiert, sondern ihm soll geholfen werden, gegen sein Elend soll etwas getan werden. Die Macht Gottes soll an ihm sichtbar werden, so sagt es Jesus. Aber die Macht Gottes wird nicht beim Erbsenzählen und beim Schuld Zuweisen deutlich. Die Macht Gottes wird spürbar, wenn Krankheit, Tod und Not angegangen und deren Ende und Grenze aufgezeigt werden. Die Macht Gottes wird spürbar, wenn Elend, Verzweiflung und Depression nicht das letzte Wort haben. Die Macht Gottes wird spürbar, wenn aufgeholfen, geheilt, getröstet, begleitet, gepflegt, geliebt wird. Und Jesus demonstriert seinen Jüngern – ja er will geradezu ein Exempel statuieren: Jetzt ist die Zeit, wenn nicht jetzt, wann dann? 4 Solange es Tag ist, müssen wir die Taten Gottes vollbringen, der mich gesandt hat. Bald kommt die Nacht, in der niemand mehr etwas tun kann. 5 Doch solange ich in der Welt bin, werde ich für die Menschen das Licht sein.« Im Kapitel vorher sagt er ja auch den berühmten Satz: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Joh 8, 12). Ein berühmter und sehr erfolgreicher Fußballtrainer hat wohl einmal gesagt: „Wo ich bin ist oben!“ (Udo Lattek) – das ist natürlich die schiere Vermessenheit. Wenn Jesus sagt: Wo ich bin, ist Licht und Helligkeit, dann ist das die schiere Wahrheit. Eine Wahrheit, die Folgen hat, die ausstrahlt, eine Wahrheit die mit uns zu tun hat, die uns ergreifen und leiten will. In der Bergpredigt sagt Jesus schließlich: „Ihr seid das Licht der Welt!“ Wir haben die Stelle heute als Lesung gehört: „Ihr seid das Licht der Welt… so lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“
Jesus braucht keine Erbsenzähler und keine Wadenbeißer, keine Hilfssheriffs und keine Kriminalisten, keine Kleingeister und keine Engstirnigen… Jesus braucht Lichtträger. Jesus braucht Bodenpersonal, das ganz genau weiß, in wessen Auftrag es unterwegs ist. Bodenpersonal, das von ihm, von seinem pfingstlichen Geist inspiriert, getragen, geleitet und begleitet ist. Jesus braucht uns. AMEN.
Drohnenaufnahme mit Panoramabild der Evangelischen Mauritiuskirche in Oberöwisheim
Foto: Claudia Spandl-Richter