Zusammenkommen und -sein lassen, was zusammen gehört…
Predigt über Prediger 12, 1-7 von Pfarrer Klaus Vogel 20. Sonntag nach Trinitatis, 17. Oktober 2021, gehalten in der Evangelischen Mauritiuskirche zu Kraichtal-Oberöwisheim im Präsenz-/Hybridgottesdienst
Predigt über Prediger Salomo (Kohelet) 12, 1-7
Kanzelgruß
Prediger 12
1 Denk schon als junger Mensch an deinen Schöpfer, bevor die beschwerlichen Tage kommen und die Jahre näher rücken, in denen du keine Freude mehr am Leben hast.
2 Dann wird selbst das Licht immer dunkler für dich: Sonne, Mond und Sterne verfinstern sich, und nach einem Regenschauer ziehen die Wolken von neuem auf.
3 Deine Hände, mit denen du dich schützen konntest, zittern; deine starken Beine werden schwach und krumm. Die Zähne fallen dir aus, du kannst kaum noch kauen, und deine Augen werden trübe.
4 Deine Ohren können den Lärm auf der Straße nicht mehr wahrnehmen, und deine Stimme wird immer leiser. Schon frühmorgens beim Zwitschern der Vögel wachst du auf, obwohl du ihren Gesang kaum noch hören kannst.
5 Du fürchtest dich vor jeder Steigung und hast Angst, wenn du unterwegs bist. Dein Haar wird weiß, mühsam schleppst du dich durch den Tag, und deine Lebenslust schwindet. Dann trägt man dich in deine ewige Wohnung, und deine Freunde laufen trauernd durch die Straßen.
6 Ja, denk an deinen Schöpfer, ehe das Leben zu Ende geht – so wie eine silberne Schnur zerreißt oder eine goldene Schale zerspringt, so wie ein Krug bei der Quelle zerbricht oder das Schöpfrad in den Brunnen fällt und zerschellt.
7 Dann kehrt der Leib zur Erde zurück, aus der er genommen wurde; und der Lebensgeist geht wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.
Kanzelgebet
Liebe Gemeinde,
die große Mitte im Text beschreibt das Leben im Alter (im Hohen Alter) – und sie beschreibt es als so richtig zum Abgewöhnen. Schlimmer geht’s nimmer – könnte man auch sagen. Es kommt mir wie ein Gang durchs Pflegeheim vor: Menschen, die keine (erkennbare) Freude am Leben mehr haben, stattdessen zittrige Hände, herausfallende Zähne, trüb gewordene Augen, schlecht hörende Ohren, eine gebrochene Stimme, Angstzustände, mühevoller, unsicherer Gang. Es klingt auch nach Schwerstarbeit für Ärztinnen und Ärzte. Mehrere Fachrichtungen müssten gleichzeitig aktiv werden und therapieren. Dieser Text ist nach überwiegender wissenschaftlicher Meinung vor ungefähr 2300 Jahren entstanden. Damals gab es keine moderne Medizin und man war dem Alterungsprozess und den Krankheiten ungleich wehrloser als heute ausgesetzt. Doch ich glaube, dass es um den medizinischen Fortschritt hier nicht gehen kann und nicht geht, in dem Sinn, dass der Text heute so wie heute nicht mehr zutrifft – denn das Altern ist nicht zu stoppen – wir können es immer noch nicht stoppen – und nach wie vor ist das Alter nicht für alle eine besonders angenehme Zeit, die nur dazu da wäre, die Rente/Pension zu genießen. Wer könnte da nicht eine eigene kleine/große Geschichte dazulegen? Ein Besuch in irgendeinem Pflegeheim beseitigt auch sofort alle Zweifel. Keine/r von uns weiß, welche Krankheiten und Altersbeschwerden die Zukunft bereithält. Wann aber ist/kommt das Alter. Jedenfalls folgt es nicht sofort auf die Phase, in der man ein junger Mensch ist. Junge Menschen – das sind unsere Konfirmandinnen und Konfirmanden. Ab wann kann man sie nicht mehr als solche bezeichnen? Wie alt müssen sie dann sein? Ich glaube, ehrlich gesagt, dass es auch solche Fragen nicht sind, auf die es unserem Text ankommt. Ganz am Anfang heißt es (V 1) „Denk schon als junger Mensch an deinen Schöpfer…“ – Gegen Ende dann wird das deutlich relativiert: (V 6) „Ja, denk an deinen Schöpfer, ehe das Leben zu Ende geht“. Also: Denke an Gott, beziehe Gott in dein Leben ein – möglichst früh, so früh wie möglich. Denke an Gott möglichst früh, möglichst jung, zur Not auch spät(er) – aber denke an ihn!!! Lebe nicht unter falschen Vorzeichen, unter falschen Voraussetzungen. Bemerkenswert finde ich, dass da am Ende keine große Keule geschwungen wird im Sinne von: …sonst drohen dir Hölle, Teufel, Fegefeuer, Schmerzen und Qualen in Dimensionen, gegenüber denen das Kinderkriegen das reinste Wellnessprogramm ist. Die Argumentation geht ganz anders. Ich rufe den letzten Vers in Erinnerung: (V 7) „Dann kehrt der Leib zur Erde zurück, aus der er genommen wurde; und der Lebensgeist geht wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.“ Die Argumentation geht also so: Gott schenkt dir das Leben, Gott schickt dich ins Leben – und am Ende mündet dasselbe wieder ein in Gott, endet bei Gott, verschmilzt mit Gott. Gott hat, Gott hält, Gott behält das Lebensmonopol: von ihm kommt es, von ihm haben wir es und zu ihm geht es, führt es am Ende. Das ist der Ausgangspunkt. Alles, was sich dazwischen befindet, ist das kostbare, wundervolle, geschenkte Leben, mein Leben. Dieses Leben muss zu dem Rahmen passen, der zu ihm gehört. Der Rahmen ist Gott. Gott, von dem es kommt und bei dem es wieder mündet. Wenn der Rahmen nicht zum Leben bzw. das Leben nicht zum Rahmen passt, dann wird es komisch und schräg. Ein hochgezüchteter Formel 1 Motor muss zur Karosserie passen. Wenn sie den in einem 500er Fiat verbauen, dann fliegt das Teil – also die Karosserie – schon nach wenigen Metern auseinander. Oder denken wir an die Tragikomödie „Good Bye, Lenin!“ von 2003 ein. Daniel Brühl und Kathrin Sass spielen die Hauptrollen. Die von Sass gespielte Christiane Kerner ist eine scheinbar 100% linientreue Frau in der Mitte ihres Lebens, die vor der Wende in Ostberlin, also der DDR lebt. Etwa einen Monat vor der Wende fällt sie durch einen Herzinfarkt ins Koma. Ein Zustand, der über den Mauerfall hinaus anhält. Als sie vom Koma aufwacht, schärfen die Ärzte dem Sohn ein, dass von der Mutter selbst die allerkleinsten Aufreger um jeden Preis ferngehalten werden müssen. Also darf sie auf keinen Fall erfahren, dass es die von ihr so geliebte DDR nicht mehr gibt und stattdessen alles Westen ist. Und so tut der Sohn, als wäre alles beim Alten geblieben. Er muss unglaublich improvisieren und erfinderisch sein, er muss tricksen, fingieren und vorgaukeln. Er produziert sogar für seine Mutter eine gefakte/falsche DDR Nachrichtensendung („Aktuelle Kamera“). Er gibt alles, er setzt sich rührend ein – aber natürlich ist dieses Unterfangen am Ende völlig aussichtslos. Aus einem Leben, das aus dem Rahmen gefallen ist, kann man wohl gut eine Tragikomödie machen – aber man kann daraus kein gutes, erfülltes, sinnvolles, kein stimmiges Leben machen. Willi Brandt hat übrigens im Zusammenhang mit der Wende gesagt: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört. Das ist auch richtig treffend für unseren heutigen Text aus dem Predigerbuch: Leben und Glaube gehören zusammen, sollten zusammen finden/wachsen und zusammen bleiben. Wer das ignoriert, wer das nicht wahrhaben will, der und die liegt komplett daneben, ist völlig auf dem Holzweg. Der heutige Text wirbt sehr dafür, dass wir uns an den halten, der uns hält. Dass wir nicht so tun, als wäre unsere Existenz unser ganz eigenes Verdienst, Ergebnis unseres eigenen Tuns, als gäbe es uns aus uns heraus – oder einfach so. Es gibt mich… dich… uns…, weil Gott es wollte, weil Gott uns das Leben gegeben hat – und weil dieses Leben irgendwann und irgendwie zu Gott zurückkehrt. Darum ist die beste aller Möglichkeiten in diesem Rahmen, unter dieser Voraussetzung zu leben. In Verbindung mit Gott. Dankbar und demütig, seine Regeln beachtend, gläubig und kritisch, fromm und fröhlich, zuversichtlich und zufrieden, gelassen und gesegnet. Amen.