Lasst uns Windmühlen bauen
Predigt über Johannes 16, 5-15 von Pfarrer Klaus Vogel – gehalten am Sonntag Exaudi, 12.05.2024 um 10 Uhr in der evangelischen Mauritiuskirche in Kraichtal-Oberöwisheim.
Kanzelgruß
Johannes 16, 5-15: Jesus bereitet seine Jünger auf seinen Abschied vor und sagt:
5 Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin? 6 Doch weil ich das zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer. 7 Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden. 8 Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht; 9 über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben; 10 über die Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht; 11 über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist. 12 Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. 13 Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. 14 Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er’s nehmen und euch verkündigen. 15 Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er wird’s von dem Meinen nehmen und euch verkündigen.
Kanzelgebet
Liebe Gemeinde,
wie soll das bloß weitergehen? Was soll daraus werden? Wie sollen wir da jemals wieder herauskommen? Wie sollen wir das überstehen? Was macht das mit uns? – Mal ehrlich: Wer kennt diese Fragen nicht? Aus dem Leben. Aus dem Alltag. Wann ging Euch so etwas zuletzt durch den Kopf? Ich habe mir die Frage vor drei Wochen gestellt, als ich meine Mannschaft im Stadion in Sinsheim habe spielen sehen – und das derart schlecht, dass mir keine Antwort darauf eingefallen ist, warum sie nicht längst in der 3. oder 4. Liga spielt. Doch das ist natürlich das allerletzte Pillepalle gegenüber dem, was sosehr viele seit über vier Jahren umtreibt. Unzählige haben sich in den letzten Wochen, Monaten und Jahren diese Frage gestellt oder besser: haben diese Worte geseufzt, geklagt, laut geschrien. Die Pandemie hat seit März 2020 unzähliges Leid und Unglück über Menschen gebracht. Die entsetzliche Flut im Ahrtal hat Leben, Existenzen, Hab und Gut zerstört. Russlands Überfall auf die Ukraine hat seit 2014 vielen Zehntausend Menschen das Leben gekostet. Nicht viel anders sieht es im Nahen Osten, im Gazastreifen aus. Hungersnot in Somalia und nicht nur dort, Erderwärmung und Klimawandel… und es gibt diese Fragen natürlich auch ungezählt oft bei uns ganz persönlich und privat – im Kleinen zwar aber oft umso bedrängender… hinter prächtigen Häuserfassaden und hinter grauen Reihenhausfronten: Wie soll es weitergehen mit meiner angeschlagenen Gesundheit oder bei meinem Job, bei dem ich mich quäle oder der mir kein vernünftiges Auskommen bietet? Wie überstehe ich die nächsten Jahre, wenn mein Partner, mein Kind, meine Mutter gestorben ist, wenn die Eltern pflegebedürftig geworden sind, wenn ich selbst längst nicht mehr so stark bin, wie ich die ganze Zeit nach außen gewirkt und getan habe, als Fels in der Brandung? Wie soll es weitergehen nach der Prüfung, durch die ich gerasselt bin, nach dem Studium, das ich geschmissen habe? Wie soll es weitergehen – all die Situationen, die diese Befindlichkeit verursachen, sind so verbreitet, so alltäglich und auch leider so uferlos.
Diese Frage(n) pass(t)(en) in die Zeit zwischen Himmelfahrt und Pfingsten, in der wir gerade sind. Sie verbindet uns an der Stelle mit den zurückgelassenen Jüngern und Freundinnen von Jesus. Denn er ist auf einmal weg. Alle Hoffnungen und Aussichten lagen auf ihm. Er war alles für sie: Lehrer und Hoffnung Geber, Anker im Sturm. Er hat Kranke geheilt, einige sogar von den Toten auferweckt. Neben seinen Freunden und Freundinnen sind sehr viele Menschen ihm nachgefolgt, haben ihm vertraut, sind seinen Weg voll Begeisterung und Überzeugung mitgegangen. Alles sollte besser werden, er sollte ihnen den Himmel nahe- und sie in den Himmel bringen, er sollte dafür sorgen, dass sie nach dem irdischen ein ewiges Leben haben, dass das Paradies offensteht. Es war damals ein wenig wie bei einer Achterbahnfahrt: Nach dem Schock darüber, dass Jesus am Kreuz gestorben ist, gab es ja nach drei Tagen völlig abrupt wieder große Hoffnung. Er soll von den Toten auferstanden sein, erzählte man sich. Und der Auferstandene ist einer ganzen Reihe glaubwürdiger Menschen erschienen. Einer seiner Jünger, Thomas, durfte ihn sogar anfassen, weil er das nicht glauben konnte. Er war also wirklich da, auferstanden, bei ihnen, präsent wie vorher. Doch dann ist er wieder gegangen, endgültig, „er fuhr auf gen Himmel“ heißt es bei Lukas, Himmelfahrt… und nach drei Tagen war leider keine Rückkehr wie an Ostern. Wie soll es nun endgültig ohne Jesus weitergehen, haben sich seine Anhängerinnen und Anhänger gefragt.
Jesus hat seine Jünger auf diesen Moment vorbereitet, davon erzählt unser Predigttext. Jesus redet mit ihnen über die Zeit, in der er nicht mehr da sein wird. Und er sagt dabei einen, wie ich finde, sehr bemerkenswerten Satz. Einen von der Sorte, die man nicht so einfach überliest und vielleicht gleich nochmal liest und dann in Grübeln kommt: „Es ist gut für euch, dass ich weggehe.“
„Es ist gut für euch, dass ich weggehe“ – ich kann mir vorstellen, dass die Jünger erstaunt und vielleicht sogar verstört waren, als sie das hörten, denn was bitte soll gut daran sein, wenn der große Lehrer, die Lichtfigur, das leuchtende Vorbild, der Frontmann weg ist? Und wie sollte es weitergehen – ein Nachfolger von Jesus war weit und breit nicht in Sicht! Er war in jeder Hinsicht einzigartig und unersetzbar. Auch wenn er immer wieder gesagt hatte, dass die Frauen und Männer um ihn herum, seine Freunde, auch große Dinge tun könnten, wenn sie glaubten. Aber in den Evangelien werden sie, wenn es gilt, wenn es drauf ankommt, meistens als ziemlich mau im Glauben und Vollbringen beschrieben.
Nun, heute wissen wir längst: Es ist weitergegangen, liebe Gemeinde, sonst wären wir gar nicht hier zusammen bei diesem Gottesdienst. Und es ist, ganz nüchtern betrachtet, ein riesengroßes Wunder, dass sich aus der damaligen kleinen Schar, die plötzlich auch noch führerlos wurde, die Christenheit von heute, also mehr als zwei Milliarden Christinnen und Christen weltweit entwickelt hat.
In einer Woche feiern wir Pfingsten, da wird es darum gehen, dass und wie dieser Übergang möglich wurde. Der Übergang von Jesu Anhängern zur ersten Gemeinde, die Menschen getauft hat und sich unaufhaltsam über die ganze Welt ausgebreitet hat.
Pfingsten erzählt, wie es weiterging, wie der Heilige Geist zu der Versammlung kam, wie sie alle be-geist-ert wurden und blieben und wie der Glaube an Jesus Christus immer weitere Kreise gezogen hat. Das geschah tatsächlich erst, als Jesus fort war, also nach der Himmelfahrt. Und unmittelbar vor seinem Weggang, vor seiner Himmelfahrt, hat er zu seinen Freundinnen und Freunden gesagt: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn, so weiter, „wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster (also der Heilige Geist) nicht zu euch!“ Jesus beschreibt dies als Abfolge: Wenn das Eine nicht zum Ende kommt, dann kann das nächste nicht beginnen. Wenn du am Bahnhof nicht aus dem Zug aussteigst, kannst du nicht in die Stadt gehen. Wenn du nicht die Kita verlässt, dann kannst du nicht in die Schule gehen. Wenn du nichts volltankst, dann kannst du nicht in den Urlaub fahren. Der Heilige Geist ist gekommen, weil Jesus gegangen ist. Die große Gemeinschaft der Christen ist somit ganz klar ein Werk des Heiligen Geistes.
Damit sind wir zwar nicht mehr weit weg vom Ende der Predigt – aber gleichzeitig bereits bei der dritten und schwierigsten Erscheinungsform Gottes angekommen – dem Heiligen Geist. Jesus hat ihn einerseits angekündigt und an Pfingsten ist er auch gekommen, wie uns die Evangelien erzählen – aber wir h a b e n den Heiligen Geist nicht als Besitz bei uns. In der Tasche, im Tresor oder in der Vitrine. Darum ist Pfingsten auch so unanschaulich. Wir alle kennen Krippenspiele und Passionsspiele – aber Pfingstspiele??? Es mag sie geben aber ich kenne keins. Der Geist entzieht sich dem besitzen Können. Der Schweizer römisch-katholische Theologe Hans Urs von Balthasar sagte einst (ich zitiere): Der Geist ist „ein scharfer, schneidender Wind, der uns das Zähneklappern beibringen kann…“ „Wer wird sich vermessen, zu behaupten, er habe den Geist? Fronten pachten ihn nicht, er fegt durch Spruch und Widerspruch. Vertreter der Tradition können geistlos vertrocknen; Vertreter der Progression können ins Leere voranmarschieren. Keine Partei fängt die himmlische Taube für sich ein. Sie kommt und geht. Sie schwebt herab, aber setzt sich nicht. Der Geistbraus stürmt, wo er will.“ – So weit das Zitat von Hans Urs von Balthasar.
Der Geist Gottes ist vollkommen unverfügbar. Er weht, wo er will. Wir können ihn nicht auf der Habenseite verbuchen und fixieren. So wenig wie wir Wind einfangen oder Seifenblasen festhalten können. Das Bild vom Wind, vom Hauch, vom Atem Gottes ist ein sehr gängiges, um den Heiligen Geist zu beschreiben. Zum Beispiel wird im Gesangbuchlied Nr. 127 der Geist in der 3. Strophe als „sel’ger Wind“ bezeichnet.
Von einem wohl klugen aber leider unbekannt gebliebenen Menschen stammt der Satz: „Wenn der Wind der Veränderung weht bauen manche Mauern und andere Windmühlen.“ Das lasst uns auf den Geist Gottes anwenden und beherzigen, als Einzelne, als Gemeinde, als Kirche: Gottes Geist ist da. Er wirkt und weht. Vielleicht nicht jeden Tag gleich stark und nicht jeden Tag aus der und in die gleiche/n Richtung. Aber der Geist weht. Lasst uns nicht uns abschotten, lasst uns nicht den Geist meiden, lasst uns nicht uns fernhalten lasst uns keine Mauern bauen, sondern Windmühlen. Lasst uns vom Geist uns behelligen und antreiben, vom Geist uns aktivieren und in Schwung bringen – aber lasst uns auch mit dem Geist, wenn er nicht weht, zur Ruhe kommen, zu uns selbst, uns besinnen und regenerieren, uns erden und am Ende – so oder so – bei Gott ankommen.