Im Tal der toten Knochen
Predigt über Hesekiel 37, 1-14 von Pfarrer Klaus Vogel – gehalten am Pfingstsonntag, 19.05.2024 um 10 Uhr in der evangelischen Mauritiuskirche in Kraichtal-Oberöwisheim.
Kanzelgruß
Hesekiel 37, 1-14: Das Tal voller Totengebeine
1 Einmal wurde ich vom HERRN ergriffen und hatte eine Vision. Darin hob mich Gottes Geist empor und brachte mich in ein weites Tal, das mit Totengebeinen übersät war.
2 Dann führte er mich durch die ganze Ebene, und ich sah dort unzählige Knochen verstreut liegen. Sie waren völlig vertrocknet.
3 Gott fragte mich: »Du Mensch, können diese Gebeine je wieder lebendig werden?« Ich antwortete: »HERR, mein Gott, das weißt du allein!«
4 Da sagte er zu mir: »Sprich zu diesen dürren Knochen und fordere sie auf: Hört, was der HERR euch sagt:
5 Ich bringe Geist in euch zurück und mache euch wieder lebendig! Ja, das verspreche ich, Gott, der HERR.
6 Ich lasse Sehnen und Fleisch um euch wachsen und überziehe euch mit Haut. Meinen Atem hauche ich euch ein, damit ihr wieder lebendig werdet. Daran sollt ihr erkennen, dass ich der HERR bin.« 7 Ich tat, was Gott mir befohlen hatte. Noch während ich seine Botschaft verkündete, hörte ich ein lautes Geräusch und sah, wie die Knochen zusammenrückten, jeder an seine Stelle.
8 Vor meinen Augen wuchsen Sehnen und Fleisch um sie herum, und darüber bildete sich Haut. Aber noch war kein Leben in den Körpern.
9 Da sprach Gott zu mir: »Du Mensch, ruf den Lebensgeist und befiehl ihm in meinem Namen: Komm, Lebensgeist, aus den vier Himmelsrichtungen und hauche diese toten Menschen an, damit sie wieder zum Leben erwachen!«
10 Ich tat, was Gott mir befohlen hatte. Da erfüllte der Lebensgeist die toten Körper, sie wurden lebendig und standen auf. Sie waren so zahlreich wie ein unüberschaubares Heer.
11 Da sprach Gott zu mir: »Du Mensch, die Israeliten gleichen diesen verdorrten Gebeinen. Du weißt, wie sie klagen: ›Wir sind völlig ausgezehrt und haben keine Hoffnung mehr, uns bleibt nur der Tod!‹
12 Darum richte ihnen diese Botschaft von mir aus: Ich, Gott, der HERR, öffne eure Gräber und hole euch heraus, denn ihr seid doch mein Volk! Ich bringe euch heim ins Land Israel.
13 Wenn ich euch wieder lebendig mache, werdet ihr erkennen, dass ich der HERR bin.
14 Ich erfülle euch mit meinem Geist, schenke euch noch einmal das Leben und lasse euch wieder in eurem Land wohnen. Ihr werdet sehen, dass ich meine Versprechen halte. Mein Wort gilt!«
Kanzelgebet
Liebe pfingstliche Festgemeinde,
vermutlich geht es nicht nur mir so, dass bestimmte Aussagen, Sätze, Lieblingssprüche von Menschen, die uns nahestehen oder nahestanden und die nicht mehr leben, uns fast unauslöschlich im Gedächtnis sind und bleiben. An einen dieser Sätze – in diesem Fall meines verstorbenen Vaters – habe ich spontan denken müssen bei diesem sehr auffälligen Predigttext aus dem Buch des Propheten Hesekiel. Mein Vater kommentierte bei Festessen und bei wirklich ganz besonderen kulinarischen Highlights die dargereichte Soße gerne mit dem Satz: „Die ist so köstlich, dass sie Tote aufwecken könnte!“ Man könnte sagen: Ein solches Essen musste dann aber schon so herausragend sein wie dieser Text – eine Vision des Propheten Hesekiel – außergewöhnlich ist – in der Bibel nahezu einzigartig. Neben der Qualität des Herausragenden verbindet den Ausspruch meines Vaters und die Vision des Propheten auch das Thema Tod. Tod und Leben. In der Reihenfolge. Was würden wir geben, wenn es eine solche Soße gäbe. Eine Soße, die einer Toten verabreicht, diese wieder quicklebendig werden ließe? Ein Koch, der solche Soßen kreieren könnte, würde nicht nur mit Sternen überschüttet. Der Prophet geht als Mensch realistisch genau vom gleichen aus wir: Wo der Tod aktiv geworden ist, ist das Leben vorbei. Der Prophet bekommt den Tod schließlich auch in seiner gesteigertsten Form gezeigt. Was er sieht, ist nicht nur tot, es ist mausetot. Eine Zuspitzung, die eigentlich Quatsch ist, weil tot ist tot. Mehr als tot geht nicht. Und dennoch: Der Prophet sieht nicht nur tote Menschen; diese sind auch schon skelettiert und die Skelette sind nicht mehr ganz, sondern die einzelnen Knochen sind überall hin verstreut. Der Prophet bekommt also doch eine maximal krasse Form von Tod vor Augen gestellt. Die ultimative Steigerung. – Und dann fragt Gott den Propheten: »Du Mensch, können diese Gebeine je wieder lebendig werden?« – Eigentlich eine rhetorische Frage. Eine Frage, bei der die Antwort vorher schon glasklar ist. Der Prophet antwortet klug und diplomatisch: »HERR, mein Gott, das weißt du allein!« Mir scheint aber, die Frage wird letztlich nicht dem Propheten gestellt, sondern uns. Durch Hesekiel uns: Kann, was tot ist, wieder lebendig werden? Und natürlich kommt auch uns das als eine rhetorische Frage vor, denn die Antwort ist ein eindeutiges, ein trauriges aber realistisches NEIN. Was tot ist, ist tot und bleibt tot und am Ende sind es eben noch die Knochen die am längsten bleiben, wie gerade dieser Tage ein Fund in Niederbayern belegt, wo ein 6.800 Jahre altes Skelett, das noch aus der Steinzeit stammt, gefunden worden ist. Am längsten bleiben die Knochen. Bei ihnen ist der Abstand zum Lebensende dann auch am längsten. »Du Mensch, können diese Gebeine je wieder lebendig werden?« Nein – können sie nicht. Die Frage geht aber auch andersherum und sie soll andersherum gestellt und betrachtet werden. Als Frage des Menschen an Gott: „Du Gott, können diese Gebeine je wieder lebendig werden?“ Hesekiel sieht die Antwort in seiner Vision. Es ist eine gigantische Vision und eine gigantische Antwort. Es ist eine menschliche Möglichkeiten des Begreifens unendlich übersteigende Ansage. Eine Machtdemonstration. Eine Vision, wie ein Film zur Glaubensvorstellung von der Allmacht Gottes. Bemerkenswert finde ich dabei die Dramaturgie, die Stufung des Geschehens. Dass einzelne Knochen sich sortieren und mit Sehnen, Fleisch und Haut verbunden zu Körpern werden, kratzt schon an unseren Vorstellungsgrenzen – und dennoch – so beschreibt die Vision – ist es nur die Grundlage, die Vorstufe, die Vorarbeit, wie auch immer… Es muss, ganz entscheidend, alles entscheidend etwas dazu. In der von mir gewählten Übersetzung heißt das der Lebensgeist. Der Heilige Geist. Gottes Geist. Erst der Geist initiiert Leben. Gottes Geist bewegt und begeistert. Gottes Geist pusht und powert. Gottes Geist ist ursächlich für das Leben. Gottes Geist ist wie der Dirigent in einem Orchester. Ohne den Dirigenten bleibt das Ensemble stumm und spielt nicht.
Ich finde diese uralte Vision aus dem Hesekielbuch extrem geeignet für das Pfingstfest, Pfingsten groß zu machen. Denn es beschreibt den Heiligen Geist, den Gott uns schickt, den wir bei und um uns haben einfach nur maximal. Maximal groß, maximal mächtig, maximal zugewandt. Lichtjahre entfernt davon als klein und unbedeutend, verniedlichend und harmlos abgetan oder behandelt zu werden. Der Heilige Geist ist der Gott mit mir und bei mir. In Psalm 18 steht der wundervolle und bekannte Vers: „Mit dir, mein Gott, kann ich über Mauern springen.“ (Ps 18, 30). Und es gilt natürlich auch: Mit dir, Heiliger Geist, kann ich über Mauern springen.
Wie sieht das aber in unserem Alltag aus? Springen wir da über Mauern? Mir scheint, dass wir da immer ganz flott am Reduzieren und am Relativieren sind: „Mit dir, mein Gott, könnte ich über Mauern springen…“ oder noch weiter verkleinert: „Mit dir, mein Gott, könnte ich vielleicht über Mauern springen…“ – Und vom wirklichen Springen über die Mauer ist gar keine Rede mehr. Statt über die Mauer zu springen, zögern und zaudern, klagen und jammern wir, schauen die Mauer lieber ehrfurchtsvoll – vielleicht auch ängstlich – an, statt zu springen. Heute ist Pfingsten und Pfingsten gilt ja als der Geburtstag der Kirche. Doch welchen Geburtstag feiert die Kirche, feiern wir mit der Kirche? Mir kommt es ungefähr vor wie der 97. Geburtstag eines Bewohners im Pflegeheim. Da ist – selbst wenn das früher ganz anders war – jetzt ist keine Party mehr, kein Tanz, kein ausgelassenes Feiern, kein Remmidemmi. Vielleicht ein ruhiges, kurzes Kaffeetrinken – mehr nicht. In diesen Zeiten sehen wir – so meine Wahrnehmung – auf die Kirche wie auf so einen betagten Pflegeheimbewohner. Die besten, die meisten, die sprudelnden und erfolgreichen Jahre sind vorbei. Die verordneten Veränderungen schnüren zu, schieben an den Rand, kosten immer mehr Bedeutung und gesellschaftliche Anerkennung.
Im Bewusstsein, dass der Heilige Geist, dass Gott an unserer Seite ist, kann und darf das doch nicht wahr sein. Das gibt’s doch überhaupt nicht! Natürlich werden und haben wir weniger. Aber das muss nicht nur negativ sein. Wer bewusst Gewicht abgenommen hat, ist auch an Körpermasse weniger (wenig Kg) geworden und es geht ihm und er fühlt sich viel besser. Der Weg, den die Kirche in den kommenden Jahren vor sich hat, der ist und wird natürlich nicht nur leicht und lustig. Aber er wird. Er wird zu manch Gutem, Besserem, Unerwartetem führen, was wir uns jetzt noch kaum ausdenken können. Und das vor allem auch, weil der Gute Geist Gottes dabei ist, uns begleitet und uns hilft und stützt, wann immer nötig. Keinen Weg, den wir im Leben zu gehen haben, keinen halben Meter müssen wir ohne den Lebensgeist gehen. Dafür steht Pfingsten. Daran erinnert uns Pfingsten. Wir sind nicht – wir sind nie allein. Der Lebensgeist hat auch in seinem Portfolio, uns zu erfüllen, zu leiten, raten und zu locken. Dass wir zu Menschen werden, die nicht nur im Blick haben, was Jesus uns aufgetragen hat, sondern die das auch begeistert und mit Herzblut leben – zumindest es mit viel Liebe und Eifer unentwegt versuchen.
Wie wäre es, wenn wir versuchen, jeden Tag, möglichst am Anfang, vielleicht vor dem Aufstehen, an den Geist, der ja da ist, zu denken? Vielleicht mit dem Satz, der der Refrain des Liedes ist, das der Kirchenchor vorhin gesungen hat /// nachher singen wird:
Atme in uns, Heiliger Geist, brenne in uns, Heiliger Geist,
wirke in uns, Heiliger Geist, Atem Gottes, komm!
Es könnte – nein es würde unser Leben, unseren Glauben, unser Christsein begeistern und beflügeln. Amen