Nett hier. Aber waren Sie schon mal in…
Weihnachtspredigt von Pfarrer Klaus Vogel am Heiligen Abend 2023 – gehalten in der Christvesper in der evangelischen Mauritiuskirche in Kraichtal-Oberöwisheim.
Kanzelgruß
Liebe Heiligabendgemeinde,
darf ich mal fragen, wer von Ihnen von außerhalb von Baden-Württemberg kommt? – Das ist sehr bedauerlich – für Sie. Denn seit fast 25 Jahren schon steht fest: Wir (Baden-Württemberger) können alles – alles außer der Nebensächlichkeit des Hochdeutschen. Es ist die geniale Mischung von Selbstbewusstsein und Selbstironie, welche die Imagekampagne unseres Bundeslandes zum absoluten Volltreffer hat werden lassen. Es war die erste Kampagne eines Bundeslands dieser Art – und es ist die mit Abstand erfolgreichste… mit allerlei Auszeichnungen geradezu überschüttet: Wir können alles – außer Hochdeutsch… Selbstbewusstsein und Selbstironie. Genau diese Mischung bzw. die automatsche Relativierung des ersten durch das zweite ist das Erfolgsrezept. Wer nur selbstbewusst ist, landet ganz schnell bei so etwas wie „Mia san mia“ und erreicht bei den anderen nur, dass sie genervt die Augen verdrehen. Wer nur selbstironisch ist, sollte sich als Komiker versuchen. Wir können alles – außer… wäre das als Slogan nicht auch etwas für die Kirche und für Christen? Wir können alles außer…
Wir können alles außer Unbarmherzigkeit. Der Mann, dessen Geburtstag wir heute feiern, hat uns das ins Stammbuch geschrieben: Selig sind die Barmherzigen… hat er gesagt – selig sind nicht die Rambos, die Rockys oder Terminators. Selig sind alle, die mild sind, mildtätig, mitleidend und herzensgütig. Das ist elementarer Bestandteil unseres Markenkerns und ein steter Ansporn, darin weiter zu kommen. So ist Gott schließlich selbst. Auch können wir alles außer Unmenschlichkeit. Das Kind hat als Erwachsener es gelebt und gefordert: Nächstenliebe, Humanität, Anteilnahme, Güte, Zuwendung. So hat er mit einem einzigen Satz das Leben einer Frau gerettet und den selbstgerechten, geifernden und gewaltgeilen Mob zum Schweigen gebracht – mit dem schlichten Satz: „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!“
Und noch etwas ist festzuhalten: Wir können alles außer Verzweiflung. Wie hat Dietrich Bonhoeffer das so eindrücklich formuliert? „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.
Ich glaube, daß Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandkraft geben will, wie wir brauchen.“
Wir können alles außer – trostlos. Im Advent haben wir gesungen: Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt,
Darauf sie all ihr Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal,
Komm tröst uns hier im Jammertal.
Heute singen wir: Meine Hoffnung und meine Freude,
meine Stärke, mein Licht: Christus meine Zuversicht, auf dich vertrau ich und fürcht mich nicht, auf dich vertrau ich und fürcht mich nicht. – Und das mit gutem Grund. Denn als Erwachsener wird das heutige Geburtstagskind sagen: Kommt her zu mir alle die ihr mühselig und beladen seid – ich will euch erquicken. Übrigens ist auf der Titelseite des aktuellen Stern ein Mann in blauem Sweatshirt abgebildet, bei dessen Anblick man ganz eindeutig Jesus assoziiert. Die rechte Hand ist im Segensgestus, mit dem linken Zeigefinger weist er auf die Friedenstaube auf seiner Brust. Darunter steht: „Die Macht der Hoffnung. Wie wir in dunklen Zeiten wieder Zuversicht finden.“ Offensichtlich ist der Erwachsene, der sich aus dem Kind in der Krippe entwickelt hat, noch immer das Symbol für Hoffnung, für Friede, für Zuversicht. Genau darum können wir alles außer trostlos.
Wir können aber auch alles außer – Ideologie. Die Kirche – unsere Kirche wird nicht wie die orthodoxen Kollegen in Russland einen Angriffskrieg gut heißen, der gegen alle Absprachen und Vereinbarungen, gegen alles Völkerrecht und gegen alle Grundlagen der Vereinten Nationen begonnen wurde und geführt wird. Unsere Leitlinien stehen in der Bibel, der Heiligen Schrift, und nicht in Parteiprogrammen oder Parlaments- oder Präsidialbeschlüssen. In der Heiligen Schrift steht etwa: Suche Frieden und jage ihm nach. Das war die Jahreslosung 2019. Das ist unser Leitbild und Leitsatz: Dem Frieden nachjagen. Nachjagen ist nicht hinterherschlendern. Nachjagen ist Maximaltempo, Maximalanstrengung, Maximaleinsatz.
Wir können alles außer Geld verschwenden. Das tun wir nicht – jedenfalls nicht bewusst und schon gar nicht verschwenden wir Geld, das wir überhaupt nicht haben. Die Kirche befindet sich in einem massiven Reduktions- und Verkleinerungsprozess, den jetzt Lebende nicht ansatzweise kennen. 1/3 aller Stellen werden in den nächsten Jahren gestrichen werden. Nur 1/3 aller Gebäude in Kirchenhand werden wir mit Müh und Not erhalten können. Darum müssen wir schrumpfen. Wir haben schon lange gesellschaftlich an Gewicht verloren. Aber wir werden niemals an Bedeutung verlieren. Denn die Bedeutung der Kirche ergibt sich nicht aus klugen Sätzen oder Aufsätzen, nicht aus der historischen Bedeutung, nicht aus geschichtlichen Großtaten oder Greueltaten im Namen der Kirche mit oder ohne Duldung der Kirchenleitung. Die Bedeutung ergibt sich auch nicht aus Umfragen oder Regierngsbeschlüssen, sondern aus dem Willen des heutigen Geburtstagskindes. Er sagt: Ich will und ich werde meine Gemeinde, meine Kirche bauen. Christus baut seine Kirche – manchmal baut er sie auch etwas zurück – aber er baut und erhält sie letztlich. Christus gibt ihr Bestandsgarantie.
Übrigens wurde vor zwei Jahren der Slogan Wir können alles – außer Hochdeutsch durch die Kampagne „The Länd“ abgelöst. Schon gesehen? „The Länd“ L Ä N D Baden-Württemberg ist jetzt „The Länd“. Ein Objekt hat den Wechsel des Slogans überstanden. Es ist das absolute Kultobjekt der Aktion seit weit über 20 Jahren: Ich meine den Aufkleber „Nett hier – aber waren Sie schon mal in Baden-Württemberg?“ An markanten Orten – und das ist kein Witz – auf der ganzen Welt prangt der Aufkleber an allen möglichen und unmöglichen Stellen. In Monte Carlo und auf dem Mount Everest… in Kaprun und auf den Kap Verden… in Goa und an der Golden Gate Brücke – dort habe ich ihn im Sommer übrigens selbst gesehen und fotografiert. Nett hier – aber waren Sie schon mal in Baden-Württemberg? Waren Sie schon einmal in „The Länd“? Wie traurig, bzw. was für ein Defizit, wenn nicht…, mag mitschwingen. Schließlich gibt es in „The Länd“ auch „the Chörch“ (Bitte mit „ö“). The Chörch (also die Kirche) in the Länd. „Nett hier. Aber waren Sie schon mal in…“ „Nett hier…“ das ist 2-3, „nett hier“ ist Mittelmaß. „Nett hier“ ist: „Na ja, nicht schlecht, aber…“
2-3, Mittelmaß, nicht schlecht… der Bezugspunkt ist jeweils das unverwechselbare Original. Also in der Kampagne unseres Bundeslandes eben „The Länd“. „The Chörch“ steht analog dazu für das religiöse, das spirituelle Original. „The Chörch“ steht für die Bewegung, die der begonnen hat, dessen Geburtstag wir heute feiern. „The Chörch“ steht für die Begeisterung durch das Original anstatt lauem, laschem und beliebigem Christsein – ebenso Begeisterung durch das Original anstatt enger und strenger Bigotterie. Leidenschaft für das Original anstatt esoterischem Mumpitz. „Nett hier. Aber waren Sie schon mal unvoreingenommen mit Lust und Hingabe in „The Chörch“? Probieren Sie es. Probieren Sie das Original. Der Spirit hier ist gewaltig. Amen