Weihnachtspredigt – „Do you follow Jesus this close?“
Predigt über einen PKW Aufkleber von Pfarrer Klaus Vogel an Heiligabend 2022, gehalten in der Evangelischen Mauritiuskirche zu Kraichtal-Oberöwisheim / ONLINE
Liebe Gemeinde,
vor gut zwei Wochen war ich mit dem Auto unterwegs und musste an einer rot zeigenden Ampel anhalten. Da ich die Angewohnheit habe, Fahrzeuge, die vor mir stehen oder fahren nicht gerade abzuscannen – aber doch genau anzuschauen: Nummernschild, Typbezeichnung… habe ich recht schnell den Aufkleber entdeckt, der da klein aber zentral und gut sichtbar zu erkennen war: Darauf stand: „Do you follow Jesus this close? Zu Deutsch: Folgst du Jesus auch so dicht und unmittelbar? Bist du an Jesus auch so nah und direkt dran?
Die Botschaft, die der Halter, auf dessen Fahrzeug der Aufkleber prangt, aussendet oder jedenfalls aussenden möchte, ist doch zumindest auch: Du bist zu dicht (viel zu dicht…) aufgefahren. Schon vor über 50 Jahren klebte auf manchem Auto (ich erinnere mich etwa an meine Religionslehrerin in der 5. Und 6. Klasse mit ihrem roten Opel Kadett) also da klebte auf manchen Autos die Bitte „Fahr nicht auf mein ‚Heilix Blechle’“. Heute heißt es zumeist und wesentlich nüchterner: „Wenn Sie dies lesen können, dann sind Sie zu dicht aufgefahren“ – und dann dieses: Bist du auch an Jesus so nah dran wie an meiner Stoßstange… und – das bleibt unausgesprochen – an der bist du viel zu nah dran. So fragt der Aufkleber “Do you follow Jesus this close?“ genau genommen: Bist du auch an Jesus viel zu nah? – Dies ist sicher nicht die eigentliche Absicht, sondern es dürfte entscheidend das Missionarische im Fokus sein: Wie hältst du es mit Jesus, oder… …so das Gretchen in Goethes Faust: „Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?
Du bist ein herzlich guter Mann,
Allein ich glaub’, du hältst nicht viel davon.
Ich möchte jedoch einen Moment bei der nicht gestellten und vor allem nicht gemeinten Frage verweilen: zu nah an Jesus… zu bigottisch, zu frömmlerisch, schleimig, honigsüß, vielleicht auch mit einer Prise Scheinheiligkeit versehen? Vermutlich kennen Sie solche Leute – ich kenne sie auch – mit denen kann man sich keine 2 Sätze über Theater, Fußball, Politik, das Wetter… kurz über Gott und die Welt unterhalten und schon wird „die Welt“ weggeswitcht und es geht nur noch um Gott, Kirche, Nachfolge, den rechten Glauben, den Weg ins Verderben, Bekehrung, Heiligung und Weltgericht.
Zu nah, zu große Nähe ist fast immer nicht gut. In einer Ehe kann sie einschnüren, in einer Freundschaft kann sie unkritisch machen, in einer Nachbarschaft kann sie je nach dem zu besonders großem Crash führen, in Bus und Bahn (auch in der Kirche…ich will aber nicht unken…) kannst du dir so Corona einfangen… auch unsere Augen brauchen Abstand. Sie sehen erst ab vielen Zentimetern scharf und gut. Mit mehr und dem richtigen Abstand sieht man einfach mehr und wird weit- und klarsichtiger. Im Straßenverkehr lässt sich mit mehr Abstand vielleicht nicht mehr jeder Aufkleber beim Vordermann/-frau erkennen – dafür aber wahrscheinlich die abrupten roten Bremsleuchten von dessen Vordermann/-frau… Mit mehr Abstand zu Jesus sehe ich mehr von ihm, bekomme ich mehr Überblick und hoffentlich tiefere Einsicht. Es gibt ein jahrzehntealtes Lied über Jesus, das heißt „Der Gammler“. In diesem Lied wird fast die ganze riesige Bandbreite dessen, was und wer Jesus wahrscheinlich war, aufgezählt: Ein Gammler mit rauen Männern im Schlepptau. Ein Dichter, der Sachverhalte mit Sätzen und Worten auf den Punkt gebracht hat. Ein Geschichtenerzähler, der gesegnet war mit dem Finden von genialen Vergleichen. Ein Zauberer – gemeint: ein Wundertäter, der alles draufhatte bis hin zur Totenauferweckung. Ein Politiker und Gerechtigkeitsfanatiker, einer der kein Blatt vor den Mund nahm, der Tacheles reden konnte – und der es, wo nötig, auch getan hat.
Mit Abstand sehe ich auch, dass wissenschaftlich z.B. vieles – um nicht zu sagen fast alles gegen Bethlehem als Geburtsort spricht (vom heutigen Standort der dortigen Geburtskirche ganz zu schweigen), dass unklar ist, ob Jesus drei Jahre öffentlich gewirkt hat, wie bei Johannes berichtet oder nur ein Jahr wie es die anderen Evangelien nahelegen. Auch, dass Markus und Johannes sich die Ankunft des Göttlichen auf der Erde ganz anders vorstellen – und auch völlig anders davon erzählen als Lukas, der uns von einer Geburt durch eine Menschenfrau berichtet und damit die wunderbare und wundervolle Weihnachtsgeschichte geschenkt hat.
Für manche von denen, für die die verschiedenen Ansätze eine zu große Glaubenszumutung ist, besteht die Lösung darin, den Blick-Abstand zu verkürzen, dann wird alles unscharf und verschwimmt, ja es vermischt sich zu einem Einheitsbrei. Nach meinem Geschmack war Einheitsbrei noch nie.
Wohl uns, wenn wir es aushalten, dass es mehrere Zugänge gibt zu der Frage, wie das Göttliche in die Welt gekommen ist – und zu vielem anderen auch.
Wohl uns, wenn wir diese Zugänge gleichberechtigt sein lassen können und nicht gleich wieder sortieren nach falsch und richtig, in Irrglaube und wahre, reine Lehre. Wohl uns, wenn wir alles als Teil der großen Wahrheit gelten lassen können. Denn alles gehört zur Wahrheit. Die Wahrnehmung von ganz verschiedenen Perspektiven und Ansätzen. Abstand weitet Blick und Überblick – Abstand weitet den Horizont. Mit weitem Horizont und aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf Weihnachten schauen – das hilft weiter. Es hilft, (s)einen Zugang zu finden zum eigentlich völlig Unmöglichen und Unvorstellbaren, das da geschehen ist.
So müsste eigentlich auf dem Aufkleber, den ich eingangs erwähnt habe, etwas in der Art stehen: Hast du den richtigen Abstand, und dennoch den richtigen Grip, den guten Blickwinkel auf Jesus – möglichst ein bisschen weiter weg als du gerade von meiner Stoßstange bist? Wirkt das Leben Jesu, seine Thesen und Ansichten, seine Taten und Absichten in deinem Leben sich aus, wirkt es nach, wirkt es weiter? Hat das, was er gesagt und getan hat, Folgen in deinem Alltag? Kannst du damit etwas anfangen… fängst du damit etwas an??? Hat es sich bemerkbar gemacht im vergangenen Jahr? Könnte es im nächsten Jahr Auswirkungen haben? – Oder ist Jesus in deinem Alltag in deinem „normalen Leben“ außerhalb deines Horizonts, außer Sichtweite, außer Reichweite, außer Schlagweite? So könnte ich auch heute die Frage an Sie/euch alle stellen: „Do you follow Jesus this close… every day…? Bist du jeden Tag so nah dran, so verbunden mit ihm wie heute… wo die Kirche voll(?) und du mitten drin bist, wo wir mit einem mega gut besuchten Gottesdienst seinen Geburtstag feiern? Es wäre schön für die Kirche, aber noch viel mehr wäre es gut und täte es gut Ihnen, dir, euch und allen, die es tun. An Jesus dran bleiben. Ihn nicht aus dem Blick verlieren. An ihm uns orientieren, die Welt im Auge, Gott auf dem Schirm und Jesus im Herzen haben… und behalten. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Es würde uns helfen, es würde anderen helfen, es würde der ganzen Welt helfen. Es würde so sehr helfen. Amen.