Die entscheidende Frage
Predigt über Apostelgeschichte 9, 1-20 von Pfarrer Klaus Vogel am 12. Sonntag nach Trinitatis, 4. September 2022, gehalten in Präsenzgottesdiensten in der Kreuzkirche zu Kraichtal-Unteröwisheim sowie in der Martinskirche zu Kraichtal-Münzesheim.
Kanzelgruß
1 Saulus verfolgte noch immer voller Hass alle, die an den Herrn glaubten, und drohte ihnen an, sie hinrichten zu lassen. Er ging zum Hohenpriester 2 und ließ sich von ihm Empfehlungsschreiben für die jüdische Gemeinde in Damaskus mitgeben. Sie ermächtigten ihn, auch dort die Anhänger der neuen Lehre aufzuspüren und sie – ganz gleich ob Männer oder Frauen – als Gefangene nach Jerusalem zu bringen. 3 Auf seiner Reise nach Damaskus, kurz vor der Stadt, umgab Saulus plötzlich ein blendendes Licht vom Himmel. 4 Er stürzte zu Boden und hörte eine Stimme: »Saul, Saul, warum verfolgst du mich?«
5 »Wer bist du, Herr?«, fragte Saulus. »Ich bin Jesus, den du verfolgst!«, antwortete die Stimme. 6 »Steh auf und geh in die Stadt. Dort wird man dir sagen, was du tun sollst.« 7 Die Begleiter von Saulus standen sprachlos da, denn sie hatten zwar die Stimme gehört, aber niemanden gesehen. 8 Als Saulus aufstand und die Augen öffnete, konnte er nicht mehr sehen. Da nahmen sie ihn an der Hand und führten ihn nach Damaskus. 9 Drei Tage lang war er blind und wollte weder essen noch trinken. 10 In Damaskus wohnte ein Jünger von Jesus, der Hananias hieß. Dem erschien der Herr in einer Vision. »Hananias«, sagte er zu ihm. »Ja, Herr, hier bin ich«, erwiderte der Mann. 11 Der Herr forderte ihn auf: »Geh zur Geraden Straße in das Haus von Judas und frag dort nach einem Saulus aus Tarsus. Er betet gerade 12 und hat in einer Vision einen Mann gesehen, der Hananias heißt. Dieser kam zu ihm und legte ihm die Hände auf, damit er wieder sehen kann.« 13 »Aber Herr«, wandte Hananias ein, »ich habe schon von so vielen gehört, wie grausam dieser Saulus in Jerusalem die verfolgt hat, die zu dir gehören. 14 Außerdem haben wir erfahren, dass er eine Vollmacht der obersten Priester hat, auch hier alle zu verhaften, die dich anbeten.« 15 Doch der Herr sprach zu Hananias: »Geh nur! Ich habe diesen Mann als mein Werkzeug auserwählt. Er soll mich bei den nichtjüdischen Völkern und ihren Herrschern, aber auch bei den Israeliten bekannt machen. 16 Dabei wird er erfahren, wie viel er um meinetwillen leiden muss.« 17 Hananias gehorchte. Er ging in das Haus von Judas, fand dort Saulus und legte ihm die Hände auf. »Lieber Bruder Saulus«, sagte er, »Jesus, der Herr, der dir unterwegs erschienen ist, hat mich zu dir geschickt, damit du wieder sehen kannst und mit dem Heiligen Geist erfüllt wirst.« 18 Im selben Moment fiel es Saulus wie Schuppen von den Augen, und er konnte wieder sehen. Er stand auf und ließ sich taufen. 19 Nachdem er gegessen hatte, erholte er sich schnell. Einige Tage blieb Saulus bei der Gemeinde in Damaskus. 20 Gleich nach seiner Taufe begann er, in den Synagogen zu predigen und zu verkünden, dass Jesus der Sohn Gottes ist.
Kanzelgebet
Liebe Gemeinde,
eine der besonders bekannten Geschichten begegnet uns da heute… und eine der enorm wichtigen Geschichten. Sie wird im NT einmal (unser Text) sehr ausführlich erzählt und sie wird sieben weiter Male erwähnt. Dreimal in der Apostelgeschichte und viermal in Briefen des Apostels Paulus. Auf kein Ereignis agbgesehen von der Person Jesu wird im NT so häufig Bezug genommen. Der großen Bekanntheit steht jedoch die enorme Fremdheit gegenüber. Denn die Erzählung setzt eine Situation voraus, in der es ungesund und nicht selbstverständlich, sondern gefährlich und hochriskant war, Christ zu sein, als Christ zu leben, sich als Christ und zu Christus zu bekennen. Beide Kirchen in Oberöwisheim sind dem Heiligen Mauritius geweiht bzw. gewidmet, einem römischen Offizier, der Ende des 3. Nachchristlichen Jahrhunderts sich geweigert hatte, mit seiner Legion, die allesamt aus Christen bestand, gegen andere Christen zu kämpfen und sie gegebenenfalls zu töten. Am Ende – so die Legende – waren genau deshalb alle Legionäre tot. Alle wurden sie zu Märtyrern. Natürlich ist das eine Legende. Nichts davon ist gesichertes Wissen und man kann alles in Zweifel ziehen. Man kann aber nicht in Zweifel ziehen, dass in der Gegenwart, 2024, Christen weltweit mit Abstand am meisten verfolgt werden. Mit wenigen Klicks finden sich im Internet folgende Information:
Weltweit gelten 340 Millionen Christen als verfolgt, Zehntausende sitzen in Zwangshaft, werden gefoltert oder diskriminiert. Besonders oft getötet werden sie in Afrika.
Wer in Nordkorea, in Afghanistan, im Jemen oder im Iran öffentlich aus der Bibel vorliest, sollte unbedingt schon sein Testament gemacht haben. Hinterher könnte die Zeit dazu nicht mehr reichen. Also: die Situation, die Saulus vor unserer heutigen Begebenheit Tag für Tag geschaffen hat, gibt es auch heute noch. Es ist aber nicht unsere Situation. Wir dürfen gefahrlos unseren Glauben rauf und runter leben und praktizieren – alles kein Problem. Doch machen wir das auch – oder schnörkellos gefragt: Warum machen wir es nicht? Wir sind bequem geworden. Wir werden bzw. wurden in eine christliche Welt hinein geboren. Alles ist selbstverständlich… wahrscheinlich zu selbstverständlich. Vieles, was zu selbstverständlich ist, wird irgendwann auch belanglos. Der christliche Glaube in unseren Breiten ist davon stark infiziert. Die Belanglosigkeit führt zu Austritten und Marginalisierung. Man könnte sagen, dass die einzige kleine Aktivität, die die Kirchenmitgliedschaft bei manchen noch hervorkitzelt, die ist, sich zum Standesamt aufzuraffen und seinen Kirchenaustritt zu erklären. Es ist unfassbar einfach. Am 15.April dieses Jahres stand im „stern“: „Der schleichende Bedeutungsverlust der christlichen Religionen schreitet voran: Erstmals sind weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland Mitglied in der katholischen oder evangelischen Kirche. Der Trend wird sich fortsetzen“.
Was sagt uns also heute dieser Text, der eine komplett andere Situation als die unsrige voraussetzt?
Nun, sie zeigt uns erstens einen Mann, der vor und nach dem wundersamen Lichtereignis bei der Begegnung mit Christus vor Damaskus mit Leidenschaft, mit Begeisterung, mit Schwung und Hingabe, maximal engagiert und motiviert seinem Auftrag, seiner Aufgabe nachgeht. Es ist zunächst der Hass (auf Christus), der Saulus antreibt und sprühen lässt vor Energie. Von Jerusalem nach Damaskus sind es heute zu Fuß 271 Kilometer. Google Maps errechnet dafür 56 Stunden Wanderzeit. Paulus ist so richtig im Flow. Wahrscheinlich hat er kurz vor Damaskus schon fertige Pläne, in welcher Reihenfolge er als Christenaufspürer vorgeht. Füße hochlegen war sicher an keiner Stelle Bestandteil dieser Reihenfolge. Als Paulus ist es nicht mehr der Hass – nun ist es das Herzblut (für Christus), das Paulus puscht und mit unglaublicher Energie versorgt. Weder als Saulus noch als Paulus ist er in seinem Auftreten und seinen Aktionen müde, mau und lau. So lasst uns heute realisieren, dass Paulus mit Herzblut, Enthusiasmus, ja mit Begeisterung – und das im wahrsten Sinn – im Auftrag des Herrn unterwegs war. Früher im Jugendkreis haben wir ganz oft das gleichlautende Lied geschmettert: „Die Sache Jesu braucht Begeisterte…“ Kennen Sie das noch? Genau so ist das… die Sache Jesu braucht Begeisterte. Sie braucht keine müden Krieger oder Schlaftabletten. Von denen gibt es schon genug.
Zweitens zeigt sie uns, dass Christus, ja, dass Gott eingreift. Von wegen „Gott ist tot – Theologie“. Gott wird aktiv. Nicht immer und nicht überall. Aber im Entscheidenden. Im Entscheidenden hat Christus, der Auferstandene hier eine Entwicklung gestoppt, die der Ausbreitung des Christentums im Weg gestanden hätte. Gottes Macht reicht locker aus, um aus seinem schlimmsten Verfolger seinen größten Anhänger zu machen. Was uns hier geschildert wird, was S/Paulus vor Damaskus erlebt hat, das lässt sich nicht wegpathologisieren und nicht wegpsychologisieren. Das war eine reale Erfahrung eines realen Eingreifens Gottes. Für mich ist hier auch gesagt: Du kannst gegen Gott leben und lästern, du kannst gegen Gott stänkern und sticheln. Gott beeindruckt das überhaupt nicht. Was er will, geschieht.
Drittens wird das Damaskus Erlebnis des Paulus – besonders von bestimmten christlichen Kreisen als Bekehrung bezeichnet. Mich überzeugt das nicht. Denn dazu müsste Paulus Atheist gewesen sein, ein gottloses, gottleugnendes Wesen. War er aber gar nicht. Er war aufrechter Jude, begeistert für Jahwe – wenn auch ziemlich übereifrig. So wird deutlich, dass uns hier nicht die Bekehrung, sondern die Berufung des Paulus sehr eindrücklich geschildert wird. Gott beruft, er holt sich seinen die Ausbreitung des Christentums entscheidenden und wichtigsten Missionar des Anfangs. Er, Gott, dreht Paulus sozusagen um, gibt ihm einen gänzlich anderen Auftrag.
Schließlich viertens: Der erste Satz – es ist eine Frage – den der Auferstandene an Paulus richtet lautet: »Saul, Saul, warum verfolgst du mich?« Stellen wir uns vor, es käme bei uns, es käme ganz konkret bei mir zu so einer Begegnung mit dem Auferstandenen. Ich glaube kaum, dass er zu mir sagen würde: „Klaus, Klaus, was und warum verfolgst du mich?“ Wahrscheinlich würde er das auch zu keinem von Euch/Ihnen sagen. Was würde er stattdessen fragen? Vielleicht dieses: „Warum traust du mir so wenig zu? Warum sind deine Zweifel fast immer größer als deine Zuversicht? Warum vertust du so viel von der kostbaren Zeit, die dir geschenkt ist? Warum hapert es so mit der Nächstenliebe – von der Feindesliebe ganz zu schweigen? Warum ist das so schwierig und zäh bei dir mit dem Verzeihen, dem Vergeben? Warum machst du nie den ersten Schritt?“
Was würde der Auferstandene uns Sie/Dich/mich fragen? Aber vielleicht würde er solche Dinge gar nicht fragen. Vielleicht würde er fragen: Hast du schon gehört, was deine neue Bischöfin, Heike Springhart sich nicht nehmen lassen will? Sie will als Christin hoffnungsstur und glaubensheiter leben Tag für Tag und sich durch nichts und niemand davon abbringen lassen. Hoffnungsstur und glaubensheiter. Probier’s mal damit. Das ist nämlich auch mein Vorschlag für dich. Amen