Es darf nichts verrutschen
Predigt über 2 Kor 9, [1-5]6-15 von Pfarrer Klaus Vogel an Erntedank, 3. Oktober 2021, gehalten in der Evangelischen Mauritiuskirche zu Kraichtal-Oberöwisheim im Präsenz-/Hybridgottesdienst
Predigt über 2 Kor 9, [1-5]6-15
Kanzelgruß
1 Ich brauche euch über den Liebesdienst für die Gemeinde in Jerusalem ja nicht mehr ausführlich zu schreiben. 2 Ich weiß, dass ihr helfen wollt. Ich habe euch schon bei den Mazedoniern gelobt: »Die Brüder und Schwestern in Korinth und Umgebung sammeln seit dem vorigen Jahr!« Euer Eifer hat die meisten von ihnen angesteckt. 3 Ich schicke jetzt die Brüder zu euch; denn ich will nicht enttäuscht werden, weil ich euch gelobt und erklärt habe: »Sie haben schon gesammelt.« 4 Wie stehe ich da, wenn dann Leute von Mazedonien mit mir kommen und feststellen, dass es gar nicht so ist! Wie werde ich mich schämen müssen – und erst ihr selbst! 5 Darum hielt ich es für nötig, die Brüder zu bitten, dass sie mir vorausreisen und die angekündigte Spende einsammeln, damit sie dann wirklich bereitliegt. Sie soll eine echte Spende sein: eine Gabe des Dankes und nicht eine Gabe des Geizes.
6 Denkt daran: Wer spärlich sät, wird nur wenig ernten. Aber wer mit vollen Händen sät, auf den wartet eine reiche Ernte. 7 Jeder soll so viel geben, wie er sich in seinem Herzen vorgenommen hat. Es soll ihm nicht Leid tun und er soll es auch nicht nur geben, weil er sich dazu gezwungen fühlt. Gott liebt fröhliche Geber! 8 Er hat die Macht, euch so reich zu beschenken, dass ihr nicht nur jederzeit genug habt für euch selbst, sondern auch noch anderen reichlich Gutes tun könnt. 9 Dann gilt von euch, was in den Heiligen Schriften steht: »Großzügig gibt er den Bedürftigen; seine Wohltätigkeit wird in Ewigkeit nicht vergessen werden.«[4] 10 Gott, der dem Sämann Saatgut und Brot gibt, wird auch euch Samen geben und ihn wachsen lassen, damit eure Wohltätigkeit eine reiche Ernte bringt. 11 Er wird euch so reich machen, dass ihr jederzeit freigebig sein könnt. Dann werden viele Menschen Gott wegen der Gaben danken, die wir ihnen von euch übergeben. 12 Dieser Liebesdienst soll ja nicht nur die Not der Gemeinde in Jerusalem lindern, sondern darüber hinaus viele Menschen zum Dank gegen Gott bewegen. 13 Wenn ihr euch in dieser Sache bewährt, werden die Brüder und Schwestern in Jerusalem Gott dafür preisen. Sie werden ihm danken, dass ihr so treu zur Guten Nachricht von Christus steht und so selbstverständlich mit ihnen und mit allen teilt.[5] 14 Und weil sie sehen, dass Gott euch in so überreichem Maß seine Gnade erwiesen hat, werden sie für euch beten und sich nach euch sehnen. 15 Lasst uns Gott danken für sein unsagbar großes Geschenk!
Kanzelgebet
Liebe Gemeinde,
obwohl wir nach wie vor gehalten sind, bei Gottesdiensten auf Kürze zu achten und obwohl der heutige Predigttext an sich schon nicht kurz ist (V 6-15), musste ich den Anfang des Kapitels noch hinzufügen, V 1-5. Sie lassen das Folgende schon in einem etwas anderen Licht erscheinen. Wir finden da eine krasse Mischung von Honig um den Mund schmieren, von erhobenem Zeigefinger, von Produktion von schlechtem Gewissen, von Autoritätsgehabe, von scheinbarem Kontrollwahn und von jemanden bei seiner Ehre packen. Also nicht einfach jemanden sondern die Gemeinde in Korinth. Es ist äußerst beeindruckend, was Paulus hier alles auffährt. Ihm geht jedoch, um es salopp auszudrücken so richtig die Düse. Der Grund:
Er hat den Mund in einer unglaublichen Weise zu voll genommen. Er hat in Mazedonien, wo er sich gerade aufhält, allen Ernstes behauptet, dass die Christen in Korinth und Umgebung schon seit vorigem Jahr fleißig Geld für die darbenden christlichen Geschwister in Jerusalem (ein)sammeln: freigiebig, großzügig, eifrig. Und jetzt, da eine erneute Reise nach Korinth ansteht – und unter seinen Reisebegleitern Menschen sein werden, denen Paulus selbst vollmundig und ohne es wirklich zu wissen, von der angeblichen gigantischen Spenden- und Sammelbereitschaft der Korinther erzählt hat… »Die Brüder und Schwestern in Korinth und Umgebung sammeln seit dem vorigen Jahr!« – jetzt wird Paulus so richtig nervös (das würde ich übrigens auch) und er schickt einen Voraustrupp Geldeintreiber – Verzeihung Spendensammler – nach Korinth, damit bei seiner Ankunft das Geld auch wirklich bereitliegt und alles schön, alles so ist, wie von ihm behauptet, damit sozusagen die Realität nachträglich seiner Rede angepasst wird. Das ist alles der Vorspann, den uns die Predigttextausschneider vorenthalten hätten. Im eigentlichen Predigttext begegnet uns dann der große Verkündiger, Theologe, Seelsorger und Apostel, der so wunderschöne und natürlich richtige Sätze heraushaut wie vom fröhlichen Geber, den Gott liebhat und vom gnädigen, schenkenden, vergebenden Gott.
Ich möchte das Problem, mit dem Paulus sich hier herumschlägt, so auf den Punkt bringen: Es darf nichts verrutschen: Die finanzielle Zuwendung gegenüber den Christen in Jerusalem darf es nicht und deshalb dürfen auch die Sammlungen in Korinth und Umgebung nicht verrutschen. Die Not ist einfach zu groß, zu ernst, zu bedrohlich. Vielleicht haben Sie das mit dem Verrutschen ja nicht in ihrem aktiven Wortschatz und gebrauchen das Wort selber nicht. Aber wenn es gebraucht wird, wenn jemand sagt: Das darf nicht verrutschen, da darf nichts verrutschen, dann bedeutet das: Das muss klappen, da darf nichts schiefgehen, du hast einen Versuch, es ist, wie wenn man nur eine Patrone im Revolver hat. Wann waren Sie zuletzt in einer solchen Situation, dass etwas unbedingt, um jeden Preis hinhauen und funktionieren musste…? Überlegen Sie mal? Solche Situationen sind nie lustig.
Heute ist der Erntedanksonntag. Alles, was wir gestern bekommen haben, um die Kirche rund um den Altar so schön zu schmücken, geben wir weiter an den Bruchsaler Tafelladen.
Die Kunden der Tafelläden sind Menschen, in deren Leben etwas verrutscht ist, in deren Leben vielleicht sogar mehreres, vieles verrutscht ist. Menschen, denen ihr Leben entglitten ist, die es vielleicht nie richtig im Griff hatten. Menschen, die Zuwendung und Hilfe benötigen, unsere Hilfe und unsere Zuwendung. Wir feiern heute ja das zweite Erntedankfest nach Ausbruch von Corona. Vor einem Jahr haben wir Anfang Oktober noch gedacht, wir hätten das Schlimmste hinter uns. Dann kam am 2. November der nicht enden wollende Winterlockdown. Nach diesem vergangenen Jahr wirkt Erntedank irgendwie schal. Dazu kommt, dass landwirtschaftlich und gärtnerisch betrachtet, die Ernten nicht prickelnd waren. Meine private Gartenernte war verregnet und mager wie lange nicht mehr. Aber dennoch wir sind heute hier – Gott sei Dank – wem auch sonst? Wir haben der Pandemie getrotzt, wir hatten keine Flutkatastrophe in unserem schönen Kraichtal. Vielleicht – oder wahrscheinlich nerven uns die Maske, die Abstände und allerlei Anderes, woran wir uns halten müssen. Aber wir sind nicht in einer Lage, wo bei uns von jetzt ab gar nichts mehr verrutschen darf, weil sonst alles aus wäre, alles zusammenbräche. Nehmen wir also Erntedank zum Anlass, an die Mitmenschen zu denken, in deren Leben etwas oder gar viel verrutscht ist. Menschen, die hart getroffen sind von Armut, Pandemie oder Katastrophe. Das sind übrigens unzählige mehr als nur die Kundinnen und Kunden der Tafelläden.
Und dafür ist der heutige Text mit der Sammlung des Paulus für die bitterarme Gemeinde in Jerusalem wirklich eine exzellente Wahl. Er will schlicht diejenigen, die mehr haben als sie brauchen dazu bringen, dass sie etwas abgeben an diejenigen, die weniger haben, als sie brauchen. Das kann man sicher sprachlich charmanter und gewinnender, dezenter und geschickter machen als Paulus – keine Frage. Aber sein Ansatz ist mehr als richtig und gehört elementar zu Erntedank. Erntedank als ein Dank, eine Dankbarkeit, die die gut Versorgten zum Teilen, zum Geben motiviert, zum Weitergeben, zum Notlindern, zur Mitmenschlichkeit, zur Hilfe dort und bei denen, bei denen alles Mögliche verrutscht ist. Ich bin im Übrigen zutiefst davon überzeugt, dass Paulus vollkommen recht hat: Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb – und die fröhliche Geberin selbstverständlich auch. Amen.