„Ich fahr mit dir nach Nizza…“
Predigt über 5 Mose 30, 11-14 von Pfarrer Klaus Vogel am 11. Oktober 2020, 18. Sonntag nach Trinitatis, gehalten in der Evangelischen Mauritiuskirche zu Kraichtal-Oberöwisheim
„Machen macht den Unterschied…“
5 Mose 30, 11-14:
Die Gebote, die ich euch heute gebe, sind ja nicht zu schwer für euch oder unerreichbar fern. Sie sind nicht oben im Himmel, so dass ihr sagen müsstet: ›Wer steigt hinauf und bringt sie uns herunter, damit wir sie hören und befolgen können?‹ Sie sind auch nicht auf der anderen Seite des Meeres, so dass ihr fragen müsstet: ›Wer fährt für uns hinüber und holt sie?‹ Im Gegenteil: Gottes Wort ist euch ganz nahe; es ist in eurem Mund und in eurem Herzen. Ihr müsst es nur befolgen!
Liebe Gemeinde,
es ist immer misslich und ärgert mich auch, wenn ein Text so anfängt wie dieser: unvermittelt, unklar und schwer erklärungsbedürftig: Die Gebote… – welche???… die ich euch heute gebe – wer ist es, der oder die gibt??? – und findet das tatsächlich heute statt? Und wenn ja, dann wo? Das hat natürlich nichts mit dem Text zu tun, sondern mit denen, die ihn auf diese Art aus dem Gefüge herausgeschnitten haben. Aber es ist auch kompliziert: Der, der hier spricht, ist Mose. Er sagt diese Sätze – und sehr viele mehr – rückblickend, kurz vor seinem Tod, als Vermächtnis. Unmittelbar vor dem Überschreiten des Jordan und dem Einzug ins gelobte Land. Die erwähnten Gebote hat er somit nicht an dem Tag gegeben, an dem er das sagt, sondern Jahrzehnte vorher am Berg Sinai. Die Forschung ist sich inzwischen zudem sicher, dass sich in diesem ganzen Textkomplex die Erfahrung der babylonischen Gefangenschaft und der Zerstörung des ersten Jerusalemer Tempels widerspiegelt. Das nur der Vollständigkeit halber. Eine Rolle spielt es, so weit ich sehe, heute nicht.
Ein Vermächtnis also – und über weite Strecken sehr ernste Mahnung, Zeigefinger, maximaler Nachdruck, Warnung vor Konsequenzen, vor Untergang, Not und Tod. Gottes Gebote, die zu einem größeren Teil Verbote sind, müssen beachtet, befolgt, eingehalten und schlichtweg getan werden – und das, weil es um nichts weniger als um Leben und Tod geht. Jedenfalls geht es direkt davor und danach darum. Entweder Gottes Gebote halten oder missachten, entweder Tod oder Leben. Absolut spannend an unseren vier Versen ist der Ton, den der Verfasser darin anschlägt. Ein völlig anderer Ton als davor und danach. Es ist ein ungemein milder, werbender Ton, der Lichtjahre entfernt erscheint von dem riesigen Druck des „du musst, du sollst, du darfst nicht…“ – die davor und danach dominieren. Die stöhnend frustrierte Überforderung, die tiefste Überzeugtheit von der Unmöglichkeit, Gottes Gebote immer alle einhalten zu können, wabern dort ständig um den Text herum. Und dann sagt der Autor – und damit ist im Zusammenhang überhaupt nicht zu rechnen: „Das ist doch nicht zu schwer“ und am Ende auf dem Höhepunkt seiner Ausführungen sagt er: Nein, es ist nicht nur nicht schwer, es ist sogar kinderleicht, völlig easy könnte man auch etwas flapsig sagen. Um Gottes Wort und seine Gebote darin zu verstehen, da musst du nicht regalmeterweise Bücher lesen, Theologie studieren, keine geistigen Verrenkungen oder Handstände machen. Denn alles ist schon in dir und bei dir, ist dir näher als deine Brieftasche. Es ist in deinem Mund und in deinem Herzen. Wenn wir etwas oder jemanden ins Herz geschlossen haben (z.B. auch unsere Kinder oder Eltern), wenn wir verliebt sind, da wird uns alles, was mit dieser Person zu tun hat, zu einer Herzensangelegenheit. Da fällt nichts schwer, wir lesen Wünsche von den Lippen ab, gehen gerne weiteste Wege und scheuen vor größten Verrücktheiten, vor größten Kosten vor größtem Einsatz vor größten Anstrengungen nicht zurück und merken nicht einmal, dass uns da etwas fordert oder anstrengt. In Songs findet das vielfach Niederschlag. Ein Beispiel: Vor fast 40 Jahren war im Rahmen der neuen deutschen Welle der erste große Erfolg der Band „Relax“ das Lied „Marie“. Darin heißt es zum Beispiel (es ist im Original bayrisch gefärbt): „I hol’ aus jeder Bank für di[ch] den Panzerschrank…“ – oder an anderer Stelle: „I fahr’ mit dir nach Nizza – nur so auf eine Pizza“. Stellen wir uns das für einen Moment in der realen Welt vor: Ich frage… (Tom, Alina, Hannelore…) ob ihr mit mir mal so eben nach Nizza fahrt zum Pizza essen. Abwegiger – ja absurder kann eine Frage eigentlich nicht sein – und trotzdem: bei unseren Herzensangelegenheiten da kommen die Fragen nach Kosten – Nutzen, nach Effizienz und auch nach Vernünftigkeit ganz weit hinten, wenn sie überhaupt je kommen. Was der Autor hier sagt ist dieses: Wenn du Gott, seinen Willen, seine Gebote im Herzen hast, dann machst du von dir aus, automatisch, intuitiv zumindest fast alles – richtig. Dann musst du nicht die 365 Ver- und die 248 Gebote, die das Alte Testament bietet, alle kennen und auswendig drauf haben. Für mich nach wie vor genial nimmt Jesus zwei der 248 Gebote, verbindet sie und fasst alle 623 Ge- und Verbote praktisch in einem Satz zusammen. Sie ahnen bzw. kennen es längst: Das Doppelgebot der Liebe: Liebe Gott und liebe deinen Nächste[n] (wie dich selbst). Wie bei der Liebe soll das Befolgen der Ge- und Verbote eine Herzensangelegenheit sein. Stets soll alles Befolgen von Ge- und Verboten von der Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen motiviert sein. Dies nicht nur als Idealfall – nein, es soll der Normalfall sein. An anderer Stelle „erfindet“ Jesus noch ein drittes Gebot: „Liebe deine Feinde…!“ Dieses – und deshalb sage ich „erfindet“ – dieses steht gar nicht im Alten Testament. Doch es gehört folgerichtig dazu. Mit drei Dingen ist nach Jesus alles gesagt: Gott lieben, die Nächsten lieben und zu den Nächsten auch die Feinde zählen… und immer ist alles im Dunstkreis von Liebe angesiedelt und das heißt von Sympathie, Empathie und Mitgefühl. Unser Leben als reine Herzensangelegenheit – es soll jedenfalls dazu werden. Ich finde das einfach genial und genial einfach. Mir fällt auch bei intensivstem Nachdenken nichts ein, womit man das in Frage stellen könnte. Was sollte ich falsch machen, wenn ich bei meinem Handeln, bei allem, was ich tue, mich leiten lasse von meiner Liebe zu Gott und meiner Liebe zu den Mitmenschen, die ja alle auch seine Geschöpfe sind. Die größte Herausforderung ist sicher die Feindesliebe. Aber immerhin: Jesus traut sie uns zu. Trauen wir sie uns doch selber auch zu. Jesus hält von uns große Stücke – da sollten wir uns auf keinen Fall in Kleinkariertheit verheddern. Machen wir die Nächstenliebe samt Feindesliebe und erst recht die Gottesliebe zu unserer großen Herzensangelegenheit. Lassen wir alte Geschichten alte Geschichten sein und verklappen und entsorgen wir sie auf der Deponie der Vergangenheit. Dann können gute Gedanken bei uns Raum gewinnen. Und bitten wir Gott, diese guten Gedanken zu aktivieren und ihnen Leben einzuhauchen. Bitten wir Gott uns zu begleiten und sein Wort in unseren Herzen lebendig und groß werden und bleiben zu lassen. Dann müssen wir nicht alle 632 Ge- und Verbote auswendig wissen – wozu auch? Kennen, wissen, drauf haben sind nicht entscheidend. Auf das Tun allein kommt es an. Tun, was Gott gefällt. Tun, was seinem Willen entspricht, Texte und Theorie Tat werden lassen. Neulich habe ich eine Tasse gesehen auf der stand dieser Spruch: „Machen ist wie wollen – nur viel krasser“. Machen macht den Unterschied. Das ist genau der Punkt. Amen.