All Inclusive
Predigt von Pfarrer Klaus Vogel am 16. August 2020, 10. Sonntag nach Trinitatis, gehalten in der Evangelischen Kreuzkirche zu Kraichtal-Unteröwisheim sowie in der Evangelischen Mauritiuskirche zu Kraichtal-Oberöwisheim
Kanzelgruß
Text Römer 11, 25-32
Gott hält seine Zusagen
25 Damit ihr das nicht falsch versteht und auf die Juden herabseht, liebe Brüder und Schwestern, möchte ich euch ein Geheimnis anvertrauen: Ein Teil des jüdischen Volkes ist verhärtet und verschlossen für die rettende Botschaft. Aber das wird nur so lange dauern, bis die volle Anzahl von Menschen aus den anderen Völkern den Weg zu Christus gefunden hat. 26 Wenn das geschehen ist, wird ganz Israel gerettet, so wie es in der Heiligen Schrift heißt: »Aus Zion wird der Retter kommen. Er wird die Nachkommen Jakobs von ihrer Gottlosigkeit befreien. 27 Und das ist der Bund, den ich, der Herr, mit ihnen schließe: Ich werde ihnen ihre Sünden vergeben.«[8] 28 Indem sie die rettende Botschaft ablehnen, sind viele Juden zu Feinden Gottes geworden. Aber gerade dadurch wurde für euch der Weg zu Christus frei. Doch Gott hält seine Zusagen, und weil er ihre Vorfahren erwählt hat, bleiben sie sein geliebtes Volk. 29 Denn Gott fordert weder seine Gaben zurück, noch widerruft er die Zusage, dass er jemanden auserwählt hat. 30 Früher habt ihr Gott nicht gehorcht. Aber weil die Juden Christus ablehnten, hat Gott euch seine Barmherzigkeit erfahren lassen. 31 Jetzt wollen die Juden nicht glauben, dass Gott durch Christus mit jedem Menschen barmherzig ist, obwohl sie es doch an euch sehen. Aber auch sie sollen schließlich Gottes Barmherzigkeit erfahren. 32 Denn Gott hat alle Menschen ihrem Unglauben überlassen, weil er allen seine Barmherzigkeit schenken will.
Kanzelgebet
Liebe Gemeinde,
wir feiern heute wie jedes Jahr am 10. Sonntag nach Trinitatis den sog. Israelsonntag. Es gibt ihn schon seit dem Mittelalter. Im Fokus war ursprünglich und lange die Judenmission, also die Bekehrung und Taufe von Jüdinnen und Juden zum Glauben an Jesus als den Messias und Sohn Gottes.
Früher – meine Mutter gebrauchte noch den Begriff – sagte man Judensonntag. Im sog. 3. Reich war das sicher auch manchmal ein Hitzesonntag (der 10. S. n. Tr. liegt ja kalendarisch immer im Hochsommer) aber natürlich besonders ein Hetzsonntag der besonderen Sorte und leider auch innerhalb der Kirche, je nach Prägung des Pfarrers.
Im Verlauf des Jahres 1933 gab es in der Nazidiktatur immer mehr Gesetze, welche die Säuberung des öffentlichen Lebens von Juden verfügten. Es war die Zeit der Arierparagrafen. Auch weite Teile der von den sog. Deutschen Christen dominierten evangelischen Kirchen in Deutschland versuchten das umzusetzen und implantierten Entsprechendes in ihre Kirchengesetze. Es gab nicht wenige zum Christentum konvertierte Juden – unter ihnen natürlich auch Pfarrer, die deshalb aussortiert wurden. Nicht die Religion war somit relevant, sondern die Herkunft. Rassismus pur. Die Kirchen warfen nicht nur jüdisch stämmige Mitarbeitende hinaus, sondern manche, wie zum Beispiel die hessische Landeskirche versagten Menschen, die sich aus dem Judentum zum Christentum bekehrt hatten, die Teilnahme am Abendmahl. Exkommunikation auf evangelisch – etwas, das es theologisch eigentlich gar nicht gibt und entsprechend völlig absurd war. In dieser aufgepeitschten, aufgewühlten Zeit ist am 14. Oktober (1933) im Breslauer Wochenblatt ein kurzer Text mit dem Titel „Vision Gottesdienst“ erschienen. Der verantwortliche Schriftleiter entging danach nur knapp und durch ganz viel „Vitamin B“ dem KZ. Der Text geht so, ich zitiere:
„Das Eingangslied ist verklungen. Der Pfarrer steht am Altar und beginnt:
‚Nichtarier werden gebeten die Kirche zu verlassen.‘
Niemand rührt sich.
‚Nichtarier werden gebeten, die Kirche sofort zu verlassen.’
Wieder bleibt alles still.
‚Nichtarier werden gebeten, die Kirche sofort zu verlassen.’
Da steigt Jesus vom Kreuz des Altars herab und verlässt die Kirche.“
Der Israelsonntag erinnert uns Jahr für Jahr daran – und Paulus mit seinem heutigen Text ebenfalls – dass es das Christentum ohne das Judentum nicht geben kann. Jesus war Jude, lebte als Jude und starb als Jude (Kreuz: INRI…). Nach dem höchsten Gebot gefragt – wie in der Lesung gehört, zitiert er aus dem Alten Testament.
Und überhaupt: ich habe einmal nachgeschaut: Etwa 10 % des Neuen Testaments bestehen aus Zitaten oder direkten Anspielungen auf das Alte Testament. Nimmt man subtilere und indirektere Anspielungen dazu, dann nähern wir uns problemlos den 20%. Übrigens: In unserem heutigen Text sind zwei von acht Versen unmittelbar Zitat des Alten Testaments. Das ist natürlich nicht repräsentativ – aber es sind 25%. Und wenn entsprechend zitiert wird, dann fast immer positiv, also um das Neue mit dem Alten zu belegen, zu verbinden, zu erklären, es auf das Fundament zu stellen. Ich frage mich heute, wie man damals ernsthaft die Idee haben konnte, das Alte Testament und alles Alttestamentliche aus dem Neuen Testament zu tilgen. Der Apostel Paulus ist davon Lichtjahre entfernt. Er plädiert vehement für Inklusion. Also kein Überwinden des jüdischen Glaubens zugunsten des neuen, kein Entweder-oder, sondern ein entschiedenes, nachdrückliches, leidenschaftlich gefordertes Sowohl-als-auch. „All inclusive“ also. Ich kann ja auch Fisch und Fleisch, Vegetarischem und Fleischlichem, Bier und Wein in ein und demselben Menü begegnen. Es sind für mich zwei Argumente, die bei Paulus herausleuchten: Das erste ist: Gott hält seine Zusagen. Gott ist nicht launenhaft und wetterwendisch wie ein gewisser US-amerikanischer Präsident. „Gott hält seine Zusagen!“ Gott erwählt nicht an einem Tag ein Volk, um es am nächsten zu verstoßen. Nein, Gott steht zu seinem Wort. Einmal erwählt – immer erwählt. Das heißt aber nicht, dass das ein exklusiver und völlig singulärer Vorgang bleiben muss. Gott hat seinen Sohn zum terrestrischen Außeneinsatz geschickt, um die Erwählung aufzustocken, auszuweiten – ja geradezu zu globalisieren. Zu den Juden kommen die anderen dazu. Zu den anderen gehören auch wir. Das hat – und das ist das Zweite – mit Gottes Barmherzigkeit zu tun. Gottes letzter Wille ist Barmherzigkeit – Barmherzigkeit für alle, weil er, wie Paulus schreibt, allen seine Barmherzigkeit schenken will. Allen – wie gesagt also: „all inclusive“. Gott sei Dank. AMEN.